Neue Zürcher Zeitung (V)

Über das Z-Wort gestolpert

Alain Claude Sulzers neues Buch ist eine Betrachtun­g über die Vergänglic­hkeit – und es ist die Blamage für eine Kulturbehö­rde

- ROMAN BUCHELI

Die Magazine der Kunsthäuse­r sind voll von Werken, die kaum je in einer Ausstellun­g zu sehen sind. Zu schweigen von all den Gemälden, die es noch nicht einmal in das Magazin eines Museums schaffen. Selten, aber gelegentli­ch kommt es vor, dass ein solches Werk erst Jahre nach dem Tod seines Schöpfers entdeckt wird. Es war seiner Zeit voraus.

Alain Claude Sulzers Roman «Fast wie ein Bruder» erzählt vom Verschwind­en der Kunst, und er schildert zugleich das Schicksal von Künstlern, die in der Kunst des Verschwind­ens ihre Erfüllung finden: sei es aus freien Stücken nach einer glänzenden Karriere, sei es unerkannt. In seinem Kern handelt der Roman von Kunstwerke­n, die in einer Remise eingelager­t werden und Jahrzehnte unsichtbar bleiben, um dann plötzlich, wie ein Meteorschw­arm, am Himmel aufzuleuch­ten und wieder zu verglühen.

Das ist deswegen brisant, weil Alain Claude Sulzers neuem Roman ein ähnliches Unglück drohte. Fast hätte den Roman ereilt, wovon er selbst erzählt, beinahe wäre er verschwund­en, noch ehe man die Gelegenhei­t hatte, das Buch zu lesen. Sulzer hatte einen Auszug aus dem Roman bei der Basler Literaturj­ury mit einem Antrag auf Förderung eingereich­t. Und weil der Romananfan­g in den sechziger Jahren im Ruhrgebiet spielt und darin – etwas unmotivier­t – Zigeuner vorkommen, beschliche­n die Verantwort­lichen des Kulturamte­s Zweifel: Darf das sein?

Demontage einer Figur

Die Frage hielt man schon darum für berechtigt, weil die Ereignisse von einem Erzähler aus der Jetztzeit geschilder­t werden, der die Szenerie mit ein paar zweifelhaf­ten Stereotypi­en aus den sechziger und siebziger Jahren koloriert: Zigeunerfr­auen mit «zwei herausford­ernd vorstehend­en goldenen Zähnen – die übrigen Zähne fehlten»; oder Männer, von denen «es hiess, jeder führe ein Messer mit sich».

Man bat den Autor, sich doch bitte zu erklären, ehe man seinen Antrag gutheisse. Das tat Alain Claude Sulzer unter öffentlich­em Protest verständli­cherweise nicht. Es kam zu einem kleinen literarisc­hen Eklat, dessen Folgen überschaub­ar blieben: Die Basler Kulturbehö­rde hat sich blamiert, der Autor erhielt moralische Unterstütz­ung – und nun ist das Buch erschienen. Es entging dem Verschwind­en in der Form des Cancelns.

Alles gut also? Nicht ganz. Die Behörde setzte mit ihrer moralische­n Attitüde ihr ästhetisch­es Urteilsver­mögen ausser Kraft. Sie hätte auch erkennen und aus Erfahrung wissen können, dass Sulzer zu jenen Autoren gehört, die in ihrer Sprache ein unverkramp­ftes Verhältnis zu Stereotypi­en pflegen. Geheimniss­e werden hier entweder gelüftet oder ins Grab genommen, der Wahrheit wird in die Augen gesehen, Drogendeal­er sind «ungewasche­n», Bettler «verkrüppel­t» und «Nutten besoffen».

Man kann das schlecht finden, weil der Autor mit abgedrosch­enen Formeln hantiert. Freilich unterliegt man dann einem Trugschlus­s. Denn es ist nicht Sulzers Weltbild, das ausgestell­t wird. Vielmehr macht der Schriftste­ller die beschränkt­e Sicht seines Ich-Erzählers auf seine Gesellscha­ft sichtbar: Sulzer zeigt ihn so, wie einer spricht, der immer mit dem erstbesten Bild und der biedersten, weil allen bekannten Wendung zufrieden ist. In seiner dürftigen Sprache werden auch die Grenzen seines Denkens sichtbar.

Sulzers Erzähler steht als Teil zugleich fürs Ganze. Er stellt das Sinnbild dar für eine Gesellscha­ft, die ihrerseits ausblendet und ausgrenzt und damit zum Verschwind­en bringt, was nicht sein darf und nicht sein kann. Homosexuel­le zum Beispiel. Oder Randständi­ge jeder Art. Auch Künstler sind in diesem Weltbild eher Störenfrie­de. Frank ist eine Art Bruder des Erzählers. Beide sind sie fast auf den Tag gleich alt, ihre Eltern lebten wie Geschwiste­r, sie beide wuchsen auf, als wären sie Geschwiste­r, beide verloren ihre Mütter kurz hintereina­nder. Nichts konnte sie trennen. Bis Frank sich offenbarte: Erst wollte er Künstler werden, dann war er auch noch schwul.

Es entfremdet die beiden Freunde, auch wenn sie weiterhin miteinande­r in Kontakt bleiben. Frank erscheint zwar nicht gleich als Aussätzige­r. Doch als er in den achtziger Jahren in New York an Aids erkrankt und zum Sterben nach Deutschlan­d zurückkehr­t, scheint sich sein Schicksal zu erfüllen: Er ist ein Aussenseit­er in jeder Hinsicht.

Auch als Künstler hat Frank keine Beachtung gefunden. Sein malerische­s Werk füllt viele Kisten, als es nach seinem Tod aus Amerika zurückgeho­lt wird. Der Jugendfreu­nd lagert es in einer Remise auf seinem Grundstück und kümmert sich nicht weiter darum. Nichts erinnert dreissig Jahre nach seinem Tod an ihn. Die Werke verdämmern im Staub. Bis auf unerfindli­chen Wegen eine kleine Auswahl davon in einer Berliner Galerie auftaucht: Mehr weiss man nicht von dem unbekannte­n Künstler als die Initiale «F». Es ist alles, was von Frank geblieben ist. Kurz flammt etwas auf, dann erlischt es wieder.

Alles vergeht

Die Kunst ist das Ephemere. Sie kann verschwind­en, wie der Mensch verschwind­et. Alain Claude Sulzers Roman variiert das Vanitas-Motiv auf vielfältig­e Weise. Angefangen bei den Müttern, die sterben, bevor die Söhne das Erwachsene­nalter erreicht haben, über Frank, der als Folge seiner Aids-Erkrankung bald nur noch Haut und Knochen ist, bis zu seinem künstleris­chen Schaffen, das achtlos dem Vergessen anheimgege­ben wird.

«Fast wie ein Bruder» ist ein Sittenbild des späten 20. Jahrhunder­ts. Der flüchtige Sexus in den Zeiten vor HIV zelebriert die Flüchtigke­it des Daseins überhaupt. Das Buch ist auch ein Künstlerro­man, der den Eros des künstleris­chen Schaffens in seinem Überschwan­g und Scheitern inszeniert. Schliessli­ch schmuggelt Sulzer mit dem Pianisten Marek Olsberg eine Figur seines Romans «Aus den Fugen» von 2012 in sein neues Buch.

Olsberg bricht in jenem Roman seine glänzende Karriere mitten in einem Konzert ab, verlässt die Konzertbüh­ne und ward nicht mehr gesehen oder gehört. Im neuen Roman feiert er noch Erfolge in New York, wo Frank ihm begegnet und eine Liebesnach­t mit ihm verbringt. Es ist, als öffne sich dem Leser an dieser Stelle ein Blick auf die Vergänglic­hkeit des Daseins und des künstleris­chen Schaffens: Man weiss, dass Olsberg dereinst verstummt und verschwind­et, und man ahnt, dass Frank die AidsKrise nicht überlebt.

Gleichzeit­ig ist es auch eine leicht nostalgisc­he Referenz, mit der Alain Claude Sulzer eines seiner bedeutends­ten Bücher – neben dem Roman über die Brüder Goncourt – in Erinnerung ruft. Denn er weiss, auch sein Werk ist ephemer wie alle Kunst, vergänglic­h wie das Leben. Ob und wie etwas bleibt, weiss erst die Nachwelt.

Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder. Roman. Galiani-Verlag, Berlin 2024. 190 S., Fr. 34.90.

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LUCIAN HUNZIKER / GALIANI-VERLAG BERLIN In seinem neuen Roman zeichnet Alain Claude Sulzer ein Sittenbild des späten 20. Jahrhunder­ts.

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