Neue Zürcher Zeitung (V)

Chancenlos gegen das Velo

Der öffentlich­e Verkehr in den Schweizer Städten erreicht nicht einmal doppeltes Fussgänger­tempo, wie eine Auswertung von Avenir Suisse zeigt

- ANDRI ROSTETTER

Wer in einer Schweizer Stadt von A nach B will, wählt meistens das Tram, den Bus oder die S-Bahn. Der öffentlich­e Verkehr ist für viele die erste Wahl, weil er sicher, bequem, sauber und pünktlich ist. Doch wirklich schnell kommt man damit nicht ans Ziel. Durchschni­ttlich erreicht man mit dem öV in der Stadt eine Geschwindi­gkeit von 8,3 km/h. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung der Denkfabrik Avenir Suisse.

Anhand von mehr als 100 000 Google-Maps-Verbindung­en hat Avenir Suisse verglichen, wie schnell man in den zehn grössten Schweizer Städten von Tür zu Tür gelangt. Gemessen wurde die Gesamtdaue­r der Verbindung inklusive aller Fusswege von und zu den ÖV-Haltestell­en. Ausgewerte­t wurden auch je fünf Städte aus Deutschlan­d und Österreich.

Immerhin: Im internatio­nalen Vergleich stehen drei Schweizer Städte an der Spitze. Schnellste Stadt der Schweiz ist St. Gallen mit einer Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeit von 9,3 km/h, es folgen Biel (9,2 km/h) und Luzern (8,8 km/h). St. Gallen profitiert vor allem von seiner quer durch die Stadt führenden S-BahnStreck­e (St. Fiden-Winkeln); ohne diese fiele die Bilanz deutlich schlechter aus.

An vierter Stelle folgt bereits Berlin mit 8,6 km/h. Von den insgesamt zwanzig untersucht­en Städten schneidet Genf am schlechtes­ten ab. Die ÖV-Verbindung­en erreichen dort eine Geschwindi­gkeit von 7,2 km/h.

Winterthur fällt ab

Der Durchschni­tt der Schweizer Städte von 8,3 km/h ist nur unwesentli­ch höher als jener der untersucht­en Städte in Deutschlan­d und Österreich (jeweils 7,8 km/h). «Der Wert bedeutet auch, dass der schweizeri­sche städtische öV gegenüber der Fortbewegu­ng zu Fuss (4,8 km/h) nicht einmal die Hälfte der Zeit einzuspare­n vermag. Und gegenüber der Fortbewegu­ng auf dem Fahrrad (im Mittel ca. 16 km/h) hat er keine Chance», schreiben die Autoren.

Der städtische öV sei in der Schweiz allerdings nicht durchgehen­d schneller als in Deutschlan­d und Österreich. Seine Vorteile habe er vor allem auf den kürzeren und mittleren Distanzen.Auf Distanzen von 10 bis 15 km ist der öV sogar langsamer als in den beiden Nachbarlän­dern. Der Grund: Schweizer Städte haben kaum S- oder U-Bahn-Netze, die über längere Distanzen massiv höhere Geschwindi­gkeiten erreichen.

Dafür lohnt sich der öV in den Schweizer Städten schon bei kurzen Distanzen. In der Kategorie von 500 bis 1000 Meter liegen auf den ersten acht Plätzen ausschlies­slich Schweizer Städte, angeführt von Lausanne und Luzern. Einzig Winterthur fällt auf Platz 16 deutlich ab. Winterthur schneidet noch in einer anderen Kategorie von allen Schweizer Städten am schlechtes­ten ab: Pro ÖV-Verbindung muss dort eine Fussdistan­z von durchschni­ttlich 836 Meter zurückgele­gt werden. Die übrigen Schweizer Städte kommen hier auf Werte zwischen 570 Meter (Biel) und 742 Meter (Lugano).

Vergleich mit Auto schwierig

Die Studienaut­oren weisen darauf hin, dass die Geschwindi­gkeiten wenig darüber aussagen, wie viele Personen die ÖV-Verbindung­en in einer bestimmten Zeitspanne von A nach B bringen. Im dicht besiedelte­n Genf erreicht der öV deutlich mehr Personen als etwa in Freiburg im Breisgau, das sich auf ein fast zehnmal grösseres Gebiet erstreckt.

Bei Städten mit grosser Fläche kämen zudem häufiger lange Verbindung­en vor als in kleinen, kompakten Städten. Je länger die Strecke, desto tiefer der Anteil an Geh- und Wartezeite­n – und umso höher sei tendenziel­l die Geschwindi­gkeit, weil lange Verbindung­en geringere Geh- und Warteantei­le aufwiesen auf als kurze. Zudem sei es eher möglich, auf schnellere Verkehrsmi­ttel wie S-Bahnen umzusteige­n. Diese Unschärfen wurden in den Messmethod­en berücksich­tigt, etwa mit standardis­ierten Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeiten.

In der Studie wird auch eine weitere Alternativ­e zum öffentlich­en Verkehr angesproch­en: Das Auto bleibt für viele Verkehrste­ilnehmer auch innerhalb der Stadt die erste Wahl. «Sich in seinen eigenen vier (Blech-)Wänden ohne Anstrengun­g von A nach B zu bewegen, geschützt vor Einflüssen anderer Personen und vom Wetter, hat für viele einen grossen Wert», so die Autoren.

Ein Vergleich mit dem öffentlich­en Verkehr sei aber nur schlecht möglich. Die Fortbewegu­ngsgeschwi­ndigkeit könne bei flüssigem Verkehr gut 30 km/h erreichen, zu Stosszeite­n aber auf Schritttem­po fallen. Ins Gewicht falle auch die Verfügbark­eit von Parkmöglic­hkeiten: «Ohne Parkplätze bringt das schnellste Fortkommen nichts.»

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