Die Seilbahn ist kein Zug
Zahlreiche Artikel in Westschweizer Medien werden in Zürich geschrieben und für die frankofone Leserschaft übersetzt – auch mittels KI
Kürzlich ging ein Raunen durch die Westschweiz: Bei einer Kündigung wurde einer Journalistin eines grossen Schweizer Medientitels angeblich gesagt, künstliche Intelligenz (KI) würde sie nun ersetzen. Ihre Artikel würden neu von deutschsprachigen Kollegen geschrieben und mit KI-Tools ins Französische übersetzt, sagte sie gegenüber der Freiburger Tageszeitung «La Liberté». Während derzeit in zahlreichen Redaktionen getestet wird, wie künstliche Intelligenz im journalistischen Alltag eingesetzt werden kann, hat sie sich an diesem Ort bereits etabliert: bei Übersetzungen.
Mehrere Titel der grossen Medienhäuser publizieren Artikel aus der Deutschschweiz in ihren Westschweizer Pendants, und dies nicht erst, seit es künstliche Intelligenz gibt. Doch diese hat dazu geführt, dass die Übersetzungen schneller und präziser sind als noch vor ein paar Monaten – und dementsprechend häufiger eingesetzt werden.
Nach den letzten Kündigungswellen, die fast alle Medienhäuser erfasst haben, ist insbesondere in der Romandie die Stimmung ohnehin schon angespannt. Ende August kommt es bei Tamedia vermutlich zu einem erneuten Stellenabbau. Hinter vorgehaltener Hand fragen sich nun zahlreiche Medienschaffende in der Romandie, ob sie um ihre Stellen fürchten müssen und von künstlicher Intelligenz mit Übersetzungen aus Zürich ersetzt werden.
Branche unter Druck
Philippe Amez-Droz, Forscher und Dozent im Bereich der Medienökonomie an der Universität Genf, sieht in den Übersetzungen denn auch vor allem wirtschaftliche Gründe. Damit könnten die Westschweizer Redaktionen, die oftmals viel kleiner seien als ihre Entsprechungen in der Deutschschweiz, ein ähnlich breites Angebot offerieren. «KI wird lediglich den Prozess der Kostensenkung beschleunigen, der für die Medienbranche charakteristisch ist», sagt Amez-Droz.
«Der Kostendruck in den Medien beunruhigt mich sehr, gerade auch im Hinblick auf die demokratische Debatte», sagt Sophie Michaud Gigon, GrünenNationalrätin des Kantons Waadt. Sie hat mit übersetzten Artikeln bereits selbst schlechte Erfahrungen gemacht. So wurde einmal etwa das Wort Vorstoss als «Motion» übersetzt, obwohl es sich um eine Interpellation gehandelt hatte. Vom Bundesrat lediglich Erklärungen zu wünschen oder aber eine Gesetzesänderung zu fordern, sind zwei sehr verschiedene Dinge. «Das hat zu irritierten Reaktionen der Öffentlichkeit geführt, mit denen ich umgehen musste. Es ist sehr wichtig, dass präzis übersetzt wird», sagt Michaud Gigon.
Hinzu komme die Wahl der Themen oder der zitierten Personen: «Natürlich sprechen lokale Beispiele oder Persönlichkeiten, die man in der Region kennt, die Menschen mehr an. In Gros-de-Vaud und in Winterthur sind das aber nicht die gleichen.» Sie sieht dies als Generalsekretärin des Westschweizer Konsumentenverbands auch aus Sicht der Konsumenten problematisch: «Gerade im Lokaljournalismus erwartet eine Leserin im Waadtländer Jura Nachrichten, die sie betreffen, und keine übersetzten Artikel, in denen es um Zürich geht.»
Fenster in die Deutschschweiz
Anders sieht dies Philippe Favre. Er hat die Westschweizer Version von «20 Minuten» aufgebaut. Hierfür würden nur Artikel übersetzt, die für die lokale Leserschaft auch relevant seien: «Wir öffnen den Romands so ein Fenster in die Deutschschweiz. Das trägt zur nationalen Kohäsion bei», sagt er überzeugt. «20 Minutes» konnte 2006 in der Westschweiz nur deshalb starten, weil das Konzept von Anfang an darauf beruhte, einen Teil der Artikel der Deutschschweizer Mutterzeitung zu übersetzen – die Redaktion in Lausanne sei sehr viel kleiner als diejenige in Zürich und könne das journalistische Angebot alleine nicht stemmen, sagt der Chefredaktor Favre. Heute habe sich die Zahl der redaktionellen Mitarbeiter mehr als verdoppelt. Übersetzt wird nach wie vor. Die Redaktion setzt dabei auf professionelle Übersetzungen: «Sonst wäre eine Seilbahn eine Art Zug, das war jedenfalls ein typischer Fehler in unserer Schulzeit», sagt Favre.
Der übersetzte Text lande danach zur finalen Kontrolle bei einem Journalisten auf dem Pult. Einerseits, um zu verifizieren, dass bei Fraktionen nicht etwa von Brüchen im Parlament die Rede ist, sondern von «groupes parlementaires». Andererseits, weil man sich schnell bewusst geworden sei, dass wörtliche Übersetzungen im Journalismus nicht funktionieren würden: «Auch die Referenzen, die Orte und die Institutionen sind nicht immer in die Westschweiz übertragbar.»
Deshalb spricht Favre lieber von «Tradaptation», einer Wortkombination aus «traduction» für Übersetzung und «adaptation» für Anpassung. «Kommt im Text ein Glarner Nationalrat vor, dann schauen wir, dass wir das Statement eines Westschweizer Nationalrats einbauen können», so Favre.
Bei internationalen Nachrichten sei dies weniger ein Problem, solche Texte liessen sich gut übersetzen. Allerdings sei in der Romandie auch der Schreibstil anders. In der Deutschschweiz kommen die Journalisten viel schneller zum Punkt und sind nüchterner, in der Westschweiz holt man gerne etwas aus, die Texte sind etwas kreativer und bildhafter. Auch der Aufbau sei anders: Der Kontext komme eher an das Ende des Textes. Es gebe auch einen wichtigen kulturellen Unterschied, sagt Favre: «Zürich blickt in Richtung Berlin, Lausanne in Richtung Paris, was die Perspektive und die Auswahl der Themen stark beeinflussen kann.»
Nebst den Tamedia-Titeln setzen auch «Blick» und «Watson», die seit 2021 mit einem Online-Portal in der Westschweiz präsent sind, zu einem Teil auf übersetzte Artikel. «Watson Suisse romande» kann dabei nicht nur auf Deutschschweizer Artikel von «Watson» zurückgreifen, sondern auch auf Artikel von anderen Zeitungen des gleichen Verlags, CH Media. Während «Watson» am Ende des Textes jeweils angibt, ob der Text übersetzt wurde, ist dies bei Ringier («Blick») und Tamedia («24 heures», «Tribune de Genève», «Le Matin Dimanche», «20 Minutes») nicht ersichtlich.
«Ich merke schnell, ob ein Text rein maschinell übersetzt wurde oder ob ein Mensch die Übersetzung noch bearbeitet hat», sagt die Mitte-Nationalrätin Christine Bulliard-Marbach. Als zweisprachige Freiburgerin kennt sie die Medientitel auf beiden Seiten des Röstigrabens gut. Auch sie sieht Unterschiede in der Art und Weise, wie diese in den unterschiedlichen Sprachregionen Themen behandeln. Die menschliche Kontrolle halte sie für grundlegend – auch für das Vertrauen in die Medien.
Ein schlechtes Signal
Die zunehmenden Übersetzungen sind für sie ein Warnsignal für den zunehmenden finanziellen Druck auf die Branche. Nach dem Nein an der Urne zum Medienförderungspaket hat sie eine parlamentarische Initiative eingereicht, die eine Erhöhung der indirekten Presseförderung fordert. Der Nationalrat hat der Vorlage bereits zugestimmt, im Herbst kommt sie in den Ständerat.
Kommt die Gesetzesänderung durch, heisst das aber nicht, dass in Zukunft weniger übersetzt wird. Während private Fernseh- und Radioveranstalter, die öffentliche Gebühren erhalten, einen regionalen Service-public-Auftrag erfüllen müssen und gemäss Leistungsauftrag das Publikum mit flächendeckenden regionalen Informationen zu versorgen haben, fehlt eine solche Auflage für Print- und Online-Medien. BulliardMarbach: «Es wäre wünschenswert, dass die Presse auch einen Anteil an Lokaljournalismus erfüllen muss.»
Nicht nur von Zürich nach Lausanne, auch in die umgekehrte Richtung werden Artikel übersetzt. «Für das gegenseitige Verständnis über die unterschiedlichen Sprachregionen hinweg ist das wichtig», sagt Bulliard-Marbach. Der Genfer Mitte-Nationalrat Vincent Maitre befürchtet dennoch, dass Zürich zunehmend eine dominierende Rolle einnimmt. Die Westschweiz werde als Minderheit zu oft vernachlässigt, teilweise gar ignoriert.
Beigetragen zu diesem Gefühl hat auch die jüngste Meldung, dass bei Tamedia nun niemand mehr für die Romandie verantwortlich sei. Christine Gabella, bislang Chefin der Westschweizer Titel von Tamedia, hat gekündigt, doch ihre Stelle wurde nicht ersetzt. Für die Westschweizer Medienlandschaft ist dies ein schlechtes Signal. Journalisten der Tamedia-Zeitungen fürchten, auf dem Abstellgleis zu landen.