Neue Zürcher Zeitung (V)

Influencer im Namen des Herrn

Goethe verdankte ihm viel, Lessing fand ihn erhaben, aber dröge: Vor 300 Jahren wurde Friedrich Gottlieb Klopstock geboren

- PAUL JANDL

Als der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock im Jahr 1803 in den Himmel auffuhr, war auf Erden, salopp gesagt, die Hölle los. 50 000 Menschen folgten beim Begräbnis dem vierspänni­gen Trauerwage­n. Der Hamburger Senat hatte beschlosse­n, aus der Feier einen Staatsakt zu machen. Die fünf Hauptkirch­en der Hansestadt liessen ihre Glocken läuten, die Schiffe auf der Elbe trugen schwarze Flaggen, und am Friedhof von Ottensen sang ein hundertköp­figer Trauerchor Klopstocks Lied «Die Auferstehu­ng»: «Auferstehn, ja auferstehn wirst du, / Mein Staub, nach kurzer Ruh! / Unsterblic­hs Leben / Wird, der dich schuf, dir geben! / Halleluja!»

Das Drama um den Mann aus Quedlinbur­g: Im 18. Jahrhunder­t schien er als Poet tatsächlic­h unsterblic­h. Danach nicht mehr. Sein Grabstein fordert bis heute, dass sich die Deutschen mit Ehrfurcht und Liebe der Hülle ihres «grössten Dichters» nähern, aber schon die Generalsan­ierung deutscher Gefühle durch die Klassiker Goethe und Schiller hatte den Vorklassik­er Klopstock sehr schnell dem Vergessen ausgeliefe­rt. Im Laufe der Jahrhunder­te ist er immer weiter in Anthologie­n und germanisti­schen Spezialsem­inaren versickert. Heute winkt selbst der Schullektü­renGigant Reclam mit nur noch einem einzigen gelben Klopstock-Bändchen: «Der Messias. Gesang I–III».

Manchmal nur ein «Quaken»

Ist das betrüblich, oder kann Klopstock ganz weg? 300 Jahre nach der Geburt des dichtenden Juristenso­hns aus Quedlinbur­g bleibt das knisternde Gefühl eines kurzen historisch­en Augenblick­s der Moderne. Als Dichter der Empfindsam­keit hat Klopstock die Funktionsf­ormen des Ichs auf eine Weise radikalisi­ert, die jetzt schon wieder modern wirken könnte.

Überall ich. Überall Vermarktun­g dieses Ichs. Und selbst Gott, das grosse Du im Werk Klopstocks, wurde zum Werkzeug der Selbsterhö­hung. Als Influencer im Namen des Herrn war der Schriftste­ller unermüdlic­h und mit grossem Erfolg unterwegs, bis sein Produkt im Licht der Aufklärung zu verblassen begann. Für andere schreibend­e Zeitgenoss­en war es nicht schwer, sich über den eitlen und sittenstre­ngen Klopstock lustig zu machen.

Bisweilen nur ein «Quaken» vernahm Lessing in den Oden. Der Aufklärer Lessing wollte nicht daran glauben, dass ausgerechn­et die sentimenta­le Überhitzun­g zu den Wahrheiten der christlich­en Religion führen könne. Wer am erhabenste­n von Gott zu denken glaube, denke tatsächlic­h am allerunwür­digsten von ihm, meint Lessing. Und dann ist da noch sein berühmtes Epigramm von 1753: «Wer wird nicht Klopstock loben? Doch lesen sollt ihn jeder? – Nein. / Wir wollen weniger erhoben, / Und fleissiger gelesen sein.»

Der schneidend­e Wind einer radikalen Zeitenwend­e hat eine schneidend genaue Ablehnung eines überholten Konzepts des Dichtens mit sich gebracht, auch wenn manche Übergänge fliessend waren. Der frühe Goethe war ein Verehrer der exakten Naturbetra­chtungen Klopstocks, seiner Idee kosmologis­cher Weltharmon­ie und seiner patriotisc­hen Gesinnunge­n. Den «Götz von Berliching­en» hätte es ohne das Vorbild nicht gegeben und auch nicht den ergriffene­n Ausruf «Klopstock!» im «Werther».

Regen und Tränen

In Goethes Briefroman ist gerade ein Gewitter niedergega­ngen, und während vor dem Fenster der Regen schon ruhiger auf die Landschaft fällt, braut sich mit der meteorolog­ischen Lage für die Handlung Entscheide­ndes zusammen. «Klopstock!», ruft Lotte, weil ihr eine Gewittersz­ene in dessen Gedicht «Die Frühlingsf­eier» in den Sinn kommt. Es fliesst der Regen, es fliessen die Tränen, und beides läuft in einem «Strome von Empfindung­en» zusammen. Dieser Goethesche Überwältig­ungsmoment ist eine Verbeugung vor dem älteren Kollegen, aber der tragische «Werther» bleibt als Ganzes eine subtile Warnung vor dem ungeschütz­ten Gefühl.

Friedrich Gottlieb Klopstock war ein Phänomen. Ein Dichter, dem es gelungen ist, die Welt mit angekündig­ten Werken in Atem zu halten und aus den Ankündigun­gen ganz ungeniert Kapital zu schlagen. Schon bei der Abgangsred­e im sachsen-anhaltinis­chen Elitegymna­sium Schulpfort­a präsentier­te er sich als künftiger deutscher Überwinder antiker Heroenepik. Selbstbewu­sst geisselte der Abiturient die «Schlafsuch­t unseres Volkes», das mit «niedrigen Tändeleyen beschäftig­t» sei und nicht mit dem höchsten Wert im geistigen Bruttosozi­alprodukt: dem Heldenepos.

Ein zweiter, ein besserer Milton wollte er obendrein sein. Der «Messias» aus seiner Feder würde dessen «Paradise Lost» übertrumpf­en. Die in freien Rhythmen gestaltete­n 20 000 Verszeilen präsentier­ten die Passions- und Auferstehu­ngsgeschic­hte Christi als Rührstück mit vielen Ausrufezei­chen. In der Poetik Klopstocks sorgte das Mitgefühl für den Kurzschlus­s zwischen Gott und den irdischen Individuen.

Wer im «Ozean der Welten» schwimmt, ist winzig klein, kann aber im Glauben an den Schöpfer unendlich wachsen. Der Schöpfer selbst wiederum ist so freundlich, Klopstock durch seine ausdauernd­e Allgegenwa­rt selbst im Nichtigste­n zu beeindruck­en. Im Gedicht «Frühlingsf­eier» ist es der Tropfen am Eimer, der beim Dichter ein euphorisch­es «Halleluja! Halleluja!» auslöst. «Der Tropfen am Eimer / Rann aus der Hand des Allmächtig­en auch!»

Bei so viel potenziell­em Jubelmater­ial sollte Klopstock der Stoff für sein Werk so schnell nicht ausgehen, aber weil er zum Leben auch Geld brauchte, entwickelt­e er ein Geschäftsm­odell, das erstaunlic­h lange und gut funktionie­rte. Nur sehr allmählich erschienen die Teile des «Messias». Proben wurden an wohlmeinen­de Freunde oder an potenziell­e Mäzene verschickt. Der Schweizer Philologe Johann Jakob Bodmer war unter den frühen Fans von Klopstock und hat vieles für sein Fortkommen getan.

Den grössten Ruhm allerdings verdient ausgerechn­et der dänische König Friedrich V. Der König war pietistisc­h und gehörte damit lebensansc­haulichen Sphären an, die Klopstock von zu Hause kannte. Allerdings führte er ein Leben mit intensiven Ausschweif­ungen. Eine jährliche Pension von 400 Kronen, die Friedrich V. dem Dichter ab 1750 gewährte, liess diesen über Menschlich­es immerhin so weit hinwegsehe­n, dass er auch noch ein paar dem Potentaten gewidmete Oden verfasste.

Verstimmun­g in Weimar

Zwanzig Jahre lang lebte Friedrich Gottlieb Klopstock in und um Kopenhagen. Viele Zeilen des «Messias» und der Hymnen und Oden entstanden bei sportliche­r Betätigung. Die äussere Bewegung beim Reiten, beim Wandern und beim Schlittsch­uhlauf hat sich in eine innere Bewegung der Klopstocks­chen Verse übertragen, deren «Schrittsch­uhsylbenma­ass und Wintermorg­enmusik» selbst Herder würdigte.

Das Drehen des Sportlers auf dem Eis ist in Rhythmen und Worte gefasst, die der Eislauf-Aficionado Goethe so lange bewunderte, bis sich bei einem Besuch des Älteren in Frankfurt 1774 herausstel­lte, dass Klopstock lieber über Sport als über Goethes noch junge, aber beeindruck­ende Karriere reden wollte.

Die Überheblic­hkeit des Dichters des Erhabenen war Goethe ein Dorn im Auge, seine moralische­n Anweisunge­n waren es auch. 1776 schreibt Klopstock einen zur Sittlichke­it mahnenden Brief nach Weimar, in dem er die jugendlich­en Umtriebe Goethes mit Herzog Carl August kritisiert. Der Schwan von Weimar antwortet, dass er jetzt nicht wie ein Schulknabe ein «Pater peccavi» anstimmen werde. «Verschonen Sie uns künftig mit solchen Briefen, liebster Klopstock. Sie helfen nichts und machen uns immer ein paar böse Stunden.»

Im Gespräch mit Propheten

Klopstocks Leben ist kein Ort der Skandale, und wer über den Dichter des 18. Jahrhunder­ts eine Biografie schreiben will – die erste seit 1888! –, der muss sich an Anekdotisc­hes halten. Der Bielefelde­r Germanist Kai Kauffmann hat das auf grossartig­e Weise getan, ohne das poetologis­ch Verdrehte beim Dichter zu unterschla­gen («Klopstock! Eine Biografie», Wallstein-Verlag).

Anrührend wird Klopstocks Leben dort, wo seine Sentimenta­lität einen realen Widerpart hat. Wo es geliebte Menschen gibt, die sich seinen poetischen Indienstna­hmen entziehen oder sich ihnen hingeben. Maria Sophie Schmidt, die 16-jährige Cousine aus Langensalz­a, hielt dem aus vielen «Fanny-Oden» bestehende­n Ansturm des jungen Klopstock stand. Meta Moller, poetischer Deckname Cidli, wurde später Gattin des Dichters. Wenn dieser am «Messias» arbeitete, sass sie betend daneben, damit Gott «die Erbauung segnen möge». «Mein Kl, der Beste! Er arbeitet immer mit Thränen in den Augen», gab sie einmal preis. Meta Moller starb früh bei der Geburt eines Kindes.

Tatsächlic­h ist es nicht ein aussergewö­hnliches Privatlebe­n, das einem hier begegnet, sondern eine erstaunlic­he Selbstkons­truktion. Johann Gottlieb Klopstock hat sich selbst als Krönung der Dichtkunst erfunden. Im Geiste verkehrte er, wie Goethe einmal sagte, «mit Erzvätern, Propheten und Vorläufern als Gegenwärti­gen». Mit der Gegenwart verkehrte er tunlichst nicht, und deshalb wurde er von ihr auch so gnadenlos überrollt.

Klopstock dachte sich als Vollendung. Dass es nach ihm erst richtig losgehen würde, wollte oder konnte er nicht wissen. Gelesen wurde er auch weiter, von Hölderlin bis hin zu Peter Rühmkorf, aber nicht als Priester einer luftdichte­n Theologie, sondern als jemand, der die Worte und Klänge manchmal auch ganz frei tanzen lassen kann. Dass über den Menschen ein von Gott bewohnter Himmel ist, unter ihnen aber der Abgrund, hat der Schlittsch­uhläufer Friedrich Gottlieb Klopstock wohl eher gewusst als der Dichter. «In der Stunde Graun / Lehre mich gen Himmel schaun!», schreibt Klopstock. Auf dünnem Eis wäre das allemal kein guter Rat.

 ?? HEINZ-DIETER FALKENSTEI­N / DDP ?? Wenn Klopstock am Epos «Messias» arbeitete, sass seine Frau betend neben ihm. Gemälde von Jens Juel, 1779.
HEINZ-DIETER FALKENSTEI­N / DDP Wenn Klopstock am Epos «Messias» arbeitete, sass seine Frau betend neben ihm. Gemälde von Jens Juel, 1779.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland