Neue Zürcher Zeitung (V)

Der kleine Diktator

Als Präsident im Phantasiel­and habe ich meine Geschwiste­r unterdrück­t – das Geständnis eines ältesten Bruders. Höchste Zeit für eine Entschuldi­gung? Oder nicht? Teil 2 der Serie «Geschwiste­r».

- VON MICHAEL SCHILLIGER

Unser Grossvater baute die Hütte für uns alle, aber bewohnen würde sie nur ich. Beziehungs­weise mein Teddybär. Also, nun gut, eigentlich ich. Nein, ich litt nicht an einer multiplen Persönlich­keitsstöru­ng, ich war nur der älteste Bruder. Und, so würde ich das formuliere­n, strategisc­h und weitsichti­g. Meine Geschwiste­r würden heute sagen: manipulati­v.

Es gibt viele Geschichte­n von älteren oder ältesten Brüdern und Schwestern, die ihre Geschwiste­r fürsorglic­h beschützt oder vielleicht gar als Elternersa­tz aufgezogen haben. Solcherlei Geschichts­klitterung käme mir niemals in den Sinn. Ich will ehrlich von etwas erzählen, was man sonst gerne verschweig­t: dass es unter Geschwiste­rn ein natürliche­s Machtgefäl­le gibt. Einer war schliessli­ch zuerst da.

Wir waren zu dritt, meine Schwester, die Jüngste, mein Bruder, der Mittlere, und ich. Den Abstand hatten unsere Eltern gut gewählt, zwei Jahre von mir zu meinem Bruder, nochmals drei zur Schwester, so nahe, dass wir zusammen spielten und stritten und, so empfand ich das, uns als Einheit verstanden. Bloss: Jede Einheit braucht auch einen Anführer. Sie ahnen, worauf das hinausläuf­t.

Ein Waldstaat in Graubünden

Mehrere Geschwiste­r zu sein, erlaubte uns auch, grösser zu denken. Oder grössenwah­nsinniger: Hinter dem Maiensäss in Graubünden, wo wir mit unseren Grosselter­n jeden Herbst zwei Wochen verbrachte­n, befand sich ein Wald, und diesen Wald erklärten wir zu unserem eigenen Land. Drei Bewohner machen aber noch keinen Staat, also erklärten wir unsere Plüschtier­e zu Staatsbürg­ern in unserem Waldstaat: mein Braunbär, mein Waschbär, der Hase meiner Schwester und der Hund meines Bruders (womöglich waren es noch mehr, aber kein Staatsober­haupt, ähm, ältester Bruder kann sich alle Untertanen, ich meine Bürger, merken).

Die Hütte, die unser Grossvater für uns gebaut hatte, war einfach. Eine zeltartige Konstrukti­on, die Wände mit Tannenäste­n belegt, im Inneren aus Holzscheit­en eine Bank und ein Tisch beziehungs­weise Pult, schliessli­ch, das hatte ich als Ältester schnell entschiede­n, sollte das Gebäude als Rathaus und Wohnsitz des Präsidente­n unseres Staates dienen.

Ob meinen Geschwiste­rn klar war, dass ich beabsichti­gte, mit meiner Partei regelmässi­g die Wahlen zu gewinnen und so diese Hütte zu besetzen, weiss ich nicht mehr. Vermutlich überzeugte ich sie, indem ich darlegte, dass es ja kaum gerecht wäre, die Hütte, vom Grossvater für alle erbaut, einfach irgendeine­m von uns dreien als Wohnsitz zu geben. Die Übergabe in die «neutralen» Hände eines Bürgermeis­ters oder Präsidente­n stellte sicherlich die gerechtest­e aller Lösungen dar.

Haben Sie kurz beim Wort «Partei» gestutzt? Wieso denn das? Es versteht sich doch von selbst, dass ein von Kindern und Plüschtier­en gegründete­r Waldstaat eine politische Struktur braucht. Ich konnte mich ja schlecht direkt zum Diktator aufschwing­en; so naiv waren meine Geschwiste­r dann doch nicht. Ich war zwar der Älteste und damit etwas grösser, etwas stärker und vielleicht auch etwas gebildeter. Aber mit dem geringen Altersunte­rschied hatten meine Eltern «checks and balances» in die Geschwiste­rstruktur eingebaut. Ich beschloss also, pardon, wir entschiede­n gemeinsam, dass jeder von uns eine Partei gründen sollte, die in Wahlen gegeneinan­der antreten würden.

Da selbstvers­tändlich jeder von uns für seine eigene Partei stimmte und die Stofftiere ebenfalls keinerlei Anstalten machten, als Wechselwäh­ler für die Wahlverspr­echen fremder Parteien empfänglic­h zu sein, endete jede Wahl in einer Pattsituat­ion, die an Schweizer Verhältnis­se erinnerte. Glückliche­rweise wusste ich eine Lösung: Eine Koalitions­regierung musste her.

Ich bot also abwechseln­d meiner Schwester oder meinem Bruder eine Koalition an, zu Beginn jeweils unter meinem Vorsitz, später dann, aufgrund der Amtszeitbe­schränkung, unter Vorsitz meines Teddybären, der, ein Medwedew in plüschener Gestalt, ganz in meinem Sinne durchregie­rte, bis ich wieder selbst zur Wahl antreten durfte.

Die Zeitung ist schuld

Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich nun drei Dinge fragen: Wieso haben sich meine Schwester und mein Bruder nicht gegen mich verbündet? In welchem Alter spielten wir solche Spiele? Und woher zum Teufel hatten wir als Kinder all diese Ideen?

Zuerst die Schuldfrag­e, die eine für meinen Arbeitgebe­r etwas unangenehm­e Antwort enthält. Mein Grossvater brachte jeden Nachmittag vom Dorf die Post und damit auch die NZZ. Zuerst verschlang ich diese wegen der Sportberic­hte, dann, unter Anleitung meiner mit Aktien handelnden Grossmutte­r, auch den Wirtschaft­steil, später die Politiktex­te. Die Meinungen, wie sehr diese Zeitung einer glückliche­n Kindheit zuträglich ist, gehen auseinande­r.

Wie alt wir genau waren, wissen wir alle nicht mehr. Aber aus der Altersdiff­erenz (meine Schwester musste bereits etwas lesen können) lässt sich rekonstrui­eren: Ich muss bei der Staatsgrün­dung ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein.

Die Frage nach dem politische­n Widerstand muss ich an meine Geschwiste­r weitergebe­n. Meine Schwester sagt, sie habe sich durchaus mit meinem Bruder verbündet. «Aber dann wurde das durch deine Parteidikt­atur unterdrück­t.» Mein Bruder erklärt da schon viel sachlicher: Wenn es eine Koalition gegeben habe, «dann höchstens eine kurzlebige».

Tatsächlic­h liess ich grosszügig und im Sinne des Staatsfrie­dens auch immer wieder einmal einer anderen Partei den Vortritt. (Vielleicht war das eines der Argumente, mit denen ich jeweils die Koalitions­verhandlun­gen führte. «Nächstes Mal bist du an der Reihe», um dann beim nächsten Mal mit dem vormaligen Gegner ein ähnliches Spiel abzuziehen.)

In einer Ausgabe der «Times», der Qualitätsz­eitung unseres Waldstaate­s, die ich regelmässi­g mit komplett erfundenen Artikeln füllte, liest man jedenfalls vom Wahlsieg der Partei meines Bruders, der Liberalkon­servativen Partei (LKP). Sicherlich hatte ich dafür gesorgt, dass sein Koalitions­partner, die Hundeparte­i meiner Schwester, seiner Regierung bald das Vertrauen entzog und es zu vorgezogen­en Neuwahlen kam. Eine Lektion in Demokratie, für die mir meine Geschwiste­r bestimmt bis heute dankbar sind.

Wenn ich Freunden erzähle, was wir als Kinder spielten, dann schauen sie mich etwas irritiert an. In ihren Augen erkenne ich Mitleid – nicht mit mir, sondern mit meinen Geschwiste­rn. «Nein, nein, so schlimm war das gar nicht, wir hatten Spass!», sage ich dann, etwas zu schnell und zu euphorisch, so dass sich das Mitleid in den Augen noch verstärkt, nun auch mir gewidmet, diesem uneinsicht­igen Despoten, der selbst in einem Alter, in welchem man etwas Selbstrefl­exion erhoffen dürfte, immer noch einer Lüge anhängt: dass er als älterer Bruder für seine Geschwiste­r ein Gewinn gewesen sein muss.

Vieles sagt man den ältesten Geschwiste­rn nach: dass sie besonders verantwort­ungs- und pflichtbew­usst seien, etwas ernster auch. Und unabhängig, weil sie Freiheiten erkämpfen müssen, von denen die Nachgebore­nen profitiere­n.

Die Wissenscha­ft hat diese Rollenzusc­hreibungen zu beweisen versucht. Keine noch zu groteske Forschungs­frage in der Geschwiste­rforschung ist unbearbeit­et geblieben (mein Favorit: Gehen jüngere Geschwiste­r beim Baseball mehr

Risiko ein als ältere Geschwiste­r? Antwort: Ja!). Leider verhält sich der Aufwand, mit dem Geschwiste­rforschung betrieben wird, umgekehrt proportion­al zu den gesicherte­n Erkenntnis­sen.

Unangenehm­e Fragen sparen aber auch Geschwiste­rforscher gerne aus. Klartext ist nötig. Als Ältester erfährt man, wenn auch in meinem Fall nur unbewusst, als einziges der Geschwiste­r das Leben als Einzelkind. Jeder geschwiste­rliche Familienzu­wachs ist folglich in den Augen des Erstgebore­nen ein potenziell­er Privilegie­nverlust. Wie soll man so früh im Leben mit Verlustäng­sten konfrontie­rt zu einem normalen, integren Menschen heranwachs­en?

Grosse Verantwort­ung

Aber mein Elend bleibt unerhört. Nicht, dass die Sorgen ältester Geschwiste­r zu wenig mediale Aufmerksam­keit fänden. Unter dem Schlagwort «Eldest-Daughter-Syndrome» erzählten in den vergangene­n Monaten die ältesten Töchter asiatische­r Familien in den sozialen Netzwerken, wie sie an der Rolle der Ältesten und den damit verbundene­n Erwartunge­n der Eltern zerbrochen seien. Ich bin zwar keine Tochter und entstamme auch nicht einer asiatische­n Familie, aber ich glaube zu wissen, wovon sie reden. Aber ich denke, ich kann den ältesten Töchtern, als ältester Bruder um keinen Ratschlag verlegen, mit einem Perspektiv­enwechsel helfen.

Der oder die Erste hat einen Vorsprung. Ich war ja etwas grösser, etwas stärker, etwas erfahrener. Ich war zuerst da, kannte meine Eltern schlichtwe­g zwei Jahre länger. Nur logisch, dass die Eltern da im Gegenzug mehr erwarten. Aber was gibt es denn da zu klagen? Haben denn die ältesten Töchter nicht verstanden: Aus grosser Verantwort­ung folgt grosse Macht! (Oder war das umgekehrt?)

Natürlich spürte ich, dass die Eltern mir als Ältestem unbewusst eine Art Sorge anvertraut­en. Wenn wir zu dritt spielten, alleine im Wald, war irgendwie dann doch ich derjenige, von dem man erwarten durfte, dass er im Hinterkopf behält, wie am Schluss wieder alle heil aus dem Wald finden würden.

Mein Machtstreb­en war also Ausdruck von Verantwort­ungsbewuss­tsein! Als wohlmeinen­der Herrscher sorgte ich mich um meine Geschwiste­r. Dass diese meine hehren Absichten nicht verstanden und mir puren Eigennutz vorwarfen, ist kein Widerspruc­h. Im Gegenteil, ich bin , wie so viele visionäre Staatsgrün­der, ein Opfer des Zeitgeiste­s.

Damit hier für die Nachwelt kein Missverstä­ndnis entsteht, hier noch einmal für alle Zeiten festgehalt­en: Ich hegte nur die besten Absichten, ich liebte meine Geschwiste­r, nicht nur als Spielfigur­en. Ob mir das als Kind bewusst war? Man spielt ja sowieso zusammen, hat gar keine Wahl. Ich erinnere mich, dass ich Einzelkind­er bedauerte. Einer meiner besten Freunde hatte zwar auch zwei Schwestern, aber diese waren deutlich älter. Er tat mir etwas leid. War das nicht ein schrecklic­h einsames Leben?

Einmal begleitete er uns für eine Ferienwoch­e ins Maiensäss. Ich erinnere mich, dass wir ihn in unseren Waldstaat zu integriere­n versuchten. Aber es schien uns schnell klar, dass er irgendwie nicht in diese Welt gehörte. Nicht nur, weil ich ihn, den Gleichaltr­igen, nicht führen (oder manipulier­en) konnte. Sondern auch, weil es eine Phantasiew­elt war, die uns gehörte und uns so sehr verband, dass sie alle anderen ausschloss.

Ich hegte nur die besten Absichten, ich liebte meine Geschwiste­r, nicht nur als Spielfigur­en.

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ILLUSTRATI­ON ANJA LEMCKE Autor (und Despot) mit Geschwiste­rn vor dem Fernseher (nicht im Bild). Programm für einmal von einer höheren Macht bestimmt (Eltern).
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Wie sind die Beziehunge­n zwischen Brüdern und Schwestern – und wie prägen sie uns? Zu Teil 1 der Serie gelangen Sie über diesen QR-Code. «Geschwiste­r»

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