Neue Zürcher Zeitung (V)

Eine Nutzen-Schaden-Rechnung

Das Vakzin von AstraZenec­a hat im ersten Jahr der Pandemie Millionen Leben gerettet – und einige hundert gekostet. Dass Vaxzevria jetzt die Zulassung in der EU verliert, hat aber andere Gründe. VON STEPHANIE LAHRTZ, ANNA WEBER

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Die Debatte um den Corona-Impfstoff Vaxzevria des Pharmaunte­rnehmens AstraZenec­a kocht erneut hoch. Denn seit dem 7. Mai besitzt dieses Vakzin in der EU keine Zulassung mehr. Allerdings: Das Ende der Zulassung ist ein rein ökonomisch­er Entscheid. Der Impfstoff wird nicht mehr nachgefrag­t und seit längerem auch nicht mehr produziert. Folgericht­ig hat die Firma einen Antrag auf Löschung der Zulassung gestellt. Dem haben die EU-Behörden stattgegeb­en. Zugleich wird nun wieder vermehrt die Frage gestellt, ob das Vakzin wirklich genutzt hat – oder vielmehr schädlich war.

Vaxzevria wurde von Forschern der University of Oxford in Zusammenar­beit mit AstraZenec­a im Lauf des Jahres 2020 entwickelt. Am 30. Dezember 2020 wurde er zuerst in Grossbrita­nnien als Impfung gegen das Coronaviru­s zugelassen. Die EU und viele andere Länder rund um den Globus folgten. Während der Pandemie wurden laut AstraZenec­a weltweit ungefähr drei Milliarden Dosen ausgeliefe­rt.

Auslöser von Hirnthromb­osen

In die Kritik geriet die Vakzine im März 2021. In mehreren Ländern hatten Personen in den drei Wochen nach der Impfung Blutgerinn­sel im Gehirn entwickelt. Es waren fast ausschlies­slich Frauen unter 60 Jahren davon betroffen. Manche von ihnen starben. Daraufhin sistierten einige Länder die Gabe von Vaxzevria komplett. Andere schränkten die Nutzung ein. So empfahl die Impfkommis­sion in Deutschlan­d Anfang April 2021 nur noch Personen über 60 Jahren die Vaxzevria-Spritze.

Ist also Vaxzevria ein Problemfal­l? Wenn man die verfügbare­n Daten zu Nutzen und Schäden anschaut, ist die Antwort eindeutig: Das Produkt hat weltweit deutlich mehr Leben gerettet als Tote verursacht. Denn zum einen sind die erwähnten Hirnthromb­osen sehr selten. Die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur (EMA) hatte erstmals im April 2021 die Fälle der schweren Impfnebenw­irkungen analysiert. Sie kam zu dem Schluss, dass die gefürchtet­e Komplikati­on bei einem von 100 000 Geimpften auftritt.

Eine neue internatio­nale Studie hat die schweren Nebenwirku­ngen bei 99 Millionen Geimpften in 8 Ländern rund um den Globus untersucht. Von den 23 Millionen Menschen in der Studie, die Vaxzevria erhalten hatten, erlitten 69 eine Hirnthromb­ose. Das sind deutlich weniger als einer von 100 000. Unter normalen Umständen hätte man im gleichen Zeitraum 21 Fälle von Hirnthromb­osen erwartet. Die Impfung hat das Risiko also um den Faktor drei erhöht.

Zum Vergleich: Die regelmässi­ge Einnahme eines hormonelle­n Verhütungs­mittels erhöht laut einer Studie des Cochrane-Instituts das Risiko für eine Thrombose um den Faktor 3,5. Trotzdem entscheide­n sich Millionen junger Frauen jeden Tag, dass sichere Verhütung ihnen das Risiko wert ist.

Vaxzevria wurde weltweit an etwa eine Milliarde Menschen verimpft. Laut einer Studie hat der Impfstoff allein im ersten Jahr der Pandemie 6,5 Millionen Menschen vor dem Tod bewahrt. Rechnet man die Rate der zusätzlich auftretend­en Hirnthromb­osen auf eine Milliarde Menschen hoch, kommt man auf etwa 2000 Fälle insgesamt. Es ist unklar, wie viele Personen weltweit an den Blutgerinn­seln starben. In Deutschlan­d und Grossbrita­nnien waren es gut ein Fünftel der Betroffene­n. Somit ist die Zahl derer, die ihr Leben Vaxzevria zu verdanken haben, sehr viel grösser als die Zahl derer, denen es den Tod gebracht hat.

Junge Frauen betroffen

Bei einzelnen Personengr­uppen kann die Schaden-Nutzen-Rechnung natürlich trotzdem anders ausfallen. Besonders junge Frauen waren von dem Risiko einer Hirnthromb­ose betroffen, gleichzeit­ig haben jüngere Menschen ein geringeres Risiko, an Covid-19 zu sterben. Die Entscheidu­ng, den Impfstoff nur noch bei Menschen über 60 Jahren einzusetze­n, ist also nachvollzi­ehbar.

Für die Altersgrup­pe der 20- bis 29-Jährigen kommt eine Schaden-Nutzen-Analyse der EMA zu dem Schluss, dass in den ersten Monaten 2021 in Europa 64 Spitalaufe­nthalte wegen Covid-19 pro 100 000 Geimpfte durch Vaxzevria verhindert wurden. Dem stehen 1,9 erwartete Fälle von Hirnthromb­osen gegenüber. Für die Analyse wurden zwei Risiken gegeneinan­der abgewogen: dasjenige, durch die Impfung eine schwere Nebenwirku­ng zu erleiden, gegen jenes, ungeimpft mit einer schweren CoronaInfe­ktion auf die Intensivst­ation zu kommen oder gar daran zu sterben.

Vaxzevria wurde trotzdem im Lauf des Jahres 2021 immer weniger nachgefrag­t. Das lag aber nicht an der Zahl der schweren Nebenwirku­ngen, sondern hatte zwei andere Gründe. Auf der einen Seite gab es immer mehr mRNA-Vakzinen. Diese hatten eine höhere Wirksamkei­t – und wurden somit beliebter.

Zum anderen entpuppte sich das Coronaviru­s als viel wandlungsf­ähiger als erwartet. Bereits Ende 2020 tauchte erstmals in Grossbrita­nnien die Variante namens Alpha auf. Sie raste sofort um die Welt. Im März 2021 wurde sie von der Delta-Variante verdrängt. Es zeigte sich bereits im Sommer 2021, dass die Wirksamkei­t von Vaxzevria gegenüber den neuen Varianten stärker abnahm als diejenige der mRNA-Vakzinen, hergestell­t von Biontech/Pfizer und Moderna.

Vaxzevria schützte bei den neuen Varianten schon 121 Tage nach der zweiten Impfung kaum mehr vor einer Infektion, wohl aber vor einer schweren Erkrankung.

Im Oktober 2021 lieferte eine schwedisch­e Studie dazu eindrückli­che Zahlen. So schützte Vaxzevria gegenüber Alpha und Delta bereits 121 Tage nach der zweiten Impfung kaum mehr vor einer Infektion. Das Biontech-Produkt war nach 211 Tragen weitgehend wirkungslo­s, dasjenige von Moderna hielt geringfügi­g länger. Sinnlos war jedoch keine der Impfungen geworden. Denn nach wie vor schützten alle drei noch zu einem gewissen Teil vor einer schweren Covid-19-Erkrankung. Der Schutz hatte zwar um fast die Hälfte nachgelass­en im Vergleich zu der Zeit vor dem Auftreten der Varianten. Aber die Impfstoffe verhindert­en immer noch zahlreiche Spitalaufe­nthalte und Todesfälle.

Diese Studie, zusammen mit Beobachtun­gen aus Ländern wie Israel, die über eine sehr gute Datenanaly­se der epidemiolo­gischen Lage verfügten, war das Hauptargum­ent für die weltweiten Boosteremp­fehlungen im Herbst 2021.

Heute wird Vaxzevria und den anderen Corona-Impfstoffe­n gerne vorgeworfe­n, sie seien sinnlos gewesen, weil sie nicht vor Ansteckung­en geschützt hätten. Doch das lag fast ausschlies­slich am Auftauchen neuer Corona-Varianten.

In jedem Infizierte­n entstehen Dutzende neuer Virusvaria­nten. Diejenigen, die dem Immunschut­z am besten entkommen, vermehren sich und werden ausgehuste­t und -geniest. Somit grassieren immer jene Varianten, gegen die die Impfungen weniger oder kaum noch wirken. Das Coronaviru­s war den Impfungen immer mehrere Schritte voraus. Bereits während der Delta-Welle, also im Frühsommer 2021, verhindert­en die Vakzine praktisch keine Virusweite­rgabe mehr.

Erstaunlic­h ist also nicht, dass die Impfungen die Ausbreitun­g des Virus nicht komplett verhindern konnten – sondern dass es trotzdem gelungen ist, so viele Tote zu verhindern.

Der Vaxzevria-Impfstoff ist nicht perfekt. Er hat seine Wirksamkei­t schnell eingebüsst und bei einigen Menschen schwere Nebenwirku­ngen ausgelöst. Aber er war früh verfügbar und hat im ersten Jahr der Pandemie Millionen von Leben gerettet. Ein Problemfal­l sieht anders aus.

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JENS SCHLUETER / GETTY Am 4. Januar 2021 wurde die erste Dosis des Impfstoffs Vaxzevria des Hersteller­s AstraZenec­a verimpft.
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