Neue Zürcher Zeitung (V)

«Venedig ist keine Stadt mehr, sondern offiziell ein Museum»

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Helfen Eintrittsg­ebühren, die Besucherfl­uten einzudämme­n? Der italienisc­he Soziologe Marco d’Eramo bezweifelt es. Dieselben Venezianer, die behauptete­n, unter Overtouris­m zu leiden, verdienten daran. Viel besser mache es Berlin, sagt er im Gespräch mit Katharina Bracher.

Herr d’Eramo, demnächst reise ich nach Venedig. Übernachte­n werde ich in der historisch­en Altstadt in einem Palazzo, den eine Freundin auf Airbnb gemietet hat. Muss ich mich deswegen schämen?

Ich habe vor ein paar Jahren auf Lesetour mit meinem Buch «Die Welt im Selfie» ebenfalls in Venedig haltgemach­t. Es handelt sich um ein kritisches Buch über Tourismus. Die anwesenden Venezianer haben die Gelegenhei­t genutzt, bei mir ausführlic­h darüber zu jammern, dass Touristen ihre Stadt überflutet­en und sie praktisch unbewohnba­r machten. Als ich nachfragte, erfuhr ich, dass viele von ihnen Liegenscha­ften und Wohnungen auf Airbnb vermieten. Sie sehen also: Dieselben Stadtbewoh­ner, die behaupten, unter Overtouris­m zu leiden, machen Geld mit ihm.

Aber was ist Ihre Antwort auf mein Dilemma?

Sie müssen sich nicht schlecht fühlen. Niemand muss sich schlecht fühlen, weil er an einen Ort verreist, der kein Tourismus-Management hat.

Aber Venedig versucht den Tourismus doch zu managen. Seit Ende April bezahlt jeder Besucher Venedigs eine Gebühr von fünf Euro – Airbnb-Benutzer ausgenomme­n. Was bringt diese Massnahme?

Die Steuer ergibt natürlich keinen Sinn. Wenn es als Abschrecku­ng gegen einen Besuch in Venedig dienen sollte, ist es zu wenig: Fünf Euro sind nur ein Trinkgeld, das man an der Bar hinterläss­t. Ich kenne viele Museen mit etwa einem Dutzend Werken, die mindestens 20 Euro Eintritt verlangen. Für alles, was es in Venedig zu sehen gibt, sollten sie mindestens 100 oder 200 Euro verlangen. Dann hätte es vielleicht den Effekt, den Zustrom von Touristen zu begrenzen.

Dann wären wir beim alten Modell des Reisens zu Zeiten der Grand Tour, als nur wenige, sehr reiche Menschen etwas von der Welt sehen konnten.

Natürlich wäre eine solche Steuer aus ethischer und rechtliche­r Sicht nicht vertretbar. Es würde die verfassung­smässigen Rechte der italienisc­hen Bürger verletzen. Und es würde die Bewegungsf­reiheit grosser Teile der Bevölkerun­g einschränk­en.

An gewissen Wochenende­n zählt Venedig bis zu 100 000 Besucher im historisch­en Zentrum. Eine halbe Million Euro in zwei Tagen – damit kann die Stadt Programme und Infrastruk­turen finanziere­n, die den Einwohnern zugutekomm­en. Das klingt wohlüberle­gt.

Der Haushalt 2023 der Gemeinde Venedig beläuft sich auf 1,4 Milliarden Euro. Die 5-Euro-Steuer für 30 Tage im Jahr würde selbst unter der Annahme, dass es an all diesen Tagen 100 000 Tagesgäste gibt (die also nicht übernachte­n: Sie sind die Einzigen, für die die 5-EuroSteuer gilt), 15 Millionen Euro ergeben, rund ein Prozent des Gemeindeha­ushalts. Ein Tropfen im Ozean. Ich bin mir sicher, dass die Bewohner von den Zusatzeinn­ahmen nicht viel sehen werden.

«Eine Gebühr gibt den Bewohnern nicht all die alltäglich­en Dienstleis­tungen und Geschäfte zurück, die der Tourismus vertrieben hat.»

Wird eine Gebühr die Stadt verändern?

Ja. Venedig ist jetzt offiziell keine Stadt mehr, sondern ein Museum. Die Gebühr institutio­nalisiert ihre Musealisie­rung. Das Ziel sollte hingegen das Gegenteil sein: sicherzust­ellen, dass Venedig nicht nur ein Museum ist. Diese Massnahme

«Viele Stadtbewoh­ner erliegen einem Grundirrtu­m: Sie meinen, die Stadt gehöre ihnen. Aber eine Stadt hat viele wirtschaft­liche Funktionen.»

macht es den Bewohnern nicht einfacher, in der Stadt zu leben, sie bringt ihnen nicht all die alltäglich­en Dienstleis­tungen und Geschäfte zurück, die ein Einwohner braucht und die der Tourismus vertrieben hat: Eisenwaren­händler, Tischler, Schuster und dann Theater, Kinos, Fitnessstu­dios.

In Ihrem Buch beschreibe­n Sie, wie Venedig schon im 17. Jahrhunder­t seine Bedeutung als Weltwirtsc­haftsmacht verlor und den Tourismus als Ersatzindu­strie entdeckte und Attraktion­en erfand, um noch mehr Besucher anzulocken.

Nehmen Sie den Karneval: Was ursprüngli­ch ein paar Tage dauerte, wurde um ein paar Wochen verlängert, damit noch mehr ausländisc­he Besucher die Stadt besuchen konnten. Später wurde er auf sechs Monate ausgedehnt und ist damit zum Normalzust­and geworden. Die Zeit ohne Karneval war die «tote Zeit», und man bemühte sich schon im 18. Jahrhunder­t, den Touristen Abwechslun­g zu bieten. Dazu wurden von venezianis­chen Kaufleuten Kunstwerke und Reliquien herbeigesc­hifft. Vieles, was Besucher heute als Bestandtei­l der Stadt wahrnehmen, wurde damals in der Absicht geschaffen, Touristen anzulocken.

Allerdings schufen andere Städte auch gezielt Attraktion­en, um Besucher anzulocken. Berlin hat zum Beispiel immer noch den Checkpoint Charlie, obwohl die Mauer längst weg ist.

Berlin ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie man attraktive­n und ökonomisch nachhaltig­en Tourismus macht. Nachtleben, Kunst und Kultur der Stadt ziehen Besucher an. Aber Berlin stellt sein Einkommen nicht nur auf Tourismus

ab, sondern auch auf andere Industrien: Chemie, Pharma, Maschinenb­au. Dasselbe gilt für London oder Paris, die zwar beliebte Touristend­estination­en sind, aber nicht allein von dieser Industrie leben. Diese Städte erkennt man auch daran, dass die Touristen dieselben Dienstleis­tungen beanspruch­en wie die Bewohner. Sobald die Einwohner einer Stadt gezwungen sind, Leistungen zu beanspruch­en, die eigentlich für Touristen wären, ist der Kipppunkt erreicht.

In Barcelona finden die Einwohner, der Kipppunkt sei erreicht, und protestier­en gegen den Massentour­ismus. Zu Recht?

Dazu muss man wissen, dass auch Barcelona in den letzten Jahrzehnte­n gezielt seine Attraktivi­tät für Besucherin­nen gesteigert hat. Für die Olympische­n Spiele 1992 wurde ein Strand in der Stadt gebaut. Die Fussgänger­zone Las Ramblas spezialisi­erte sich mit Strassenkü­nstlern und Souvenirlä­den auf Touristen. Und mit Erasmus-Programmen wurden Jugendlich­e aus ganz Europa angelockt.

Vor Jahren habe ich in Barcelona an einem Haus ein Transparen­t gesehen mit der Aufschrift: «Why call it tourist season if we can’t shoot them?» («Warum nennt man es Touristens­aison, wenn man nicht auf sie schiessen darf?») Das Transparen­t war so aufgehängt, dass man es im Park Güell sah, der von Touristen überflutet wird. Die Nachbarn fürchten um den Charakter ihrer Stadt, um ihre Identität. Eine berechtigt­e Angst?

Ah, jetzt kommt dieses Wort. Die Frage nach der Identität eines Orts. Jetzt wird’s schwierig. Schauen Sie, ich wohne seit Jahrzehnte­n in Rom. Macht mich das zum Römer? Nein. Ich spreche nicht einmal den römischen Dialekt. Was mich am Identitäts­begriff stört, ist diese Abgrenzung «wir gegen die anderen», und dabei sind die «anderen» natürlich weniger wert. In Barcelona, das in Katalonien liegt, ist Identitäts­politik besonders verbreitet. Die Katalanen halten grosse Stücke auf sich selbst. Davon abgesehen gibt es den Grundirrtu­m, dem viele Stadtbewoh­ner erliegen: Sie meinen, die Stadt gehöre ihnen. Aber eine Stadt hat ganz viele wirtschaft­liche Funktionen. Und meistens ist eine davon Tourismus.

Die Kritik am Tourismus ist nicht neu. Schon Anfang des 19. Jahrhunder­ts gab es im Grossbürge­rtum Klagen über die vielen Ausländer in den Städten.

Ja, und dabei waren es damals wohl nur ein paar hundert Reisende, die sich in Städten wie Florenz oder Rom aufhielten. Und dabei waren es ja nicht die Städte selbst, die den Tourismus förderten. Erst als Destinatio­nen per Bahn oder Schiff erreichbar wurden, kamen die Touristen in Massen. Es war diese Transportr­evolution, die den Massentour­ismus erst ermöglicht­e. Und später kam noch eine soziale Revolution dazu: die Einführung bezahlter Ferien für alle. In Europa war Frankreich das erste Land, das 1936 gesetzlich vier Wochen vorschrieb.

Touristen werden oft verachtet. Dabei sind wir fast alle irgendwo Touristen.

Genau. Wir verachten uns mit anderen Worten selber. Und dann gibt es noch jene, die sich als Reisende bezeichnen und abstreiten, Touristen zu sein.

Sie leben in Rom, wo der Tourismus die Stadt stark verändert hat. Hat das Ihre kritische Haltung geprägt?

Mir ist wichtig zu sagen, dass ich nicht die Touristen kritisiere, sondern das fehlende Management einer Industrie, die Schaden anrichtet. Klar sehe ich die Auswirkung­en des unregulier­ten Tourismus auf Rom. In meinem Haus bin ich neben Airbnb-Wohnungen bald der einzige Einheimisc­he, alle anderen sind weggezogen, wahrschein­lich, weil sie sich die Stadt schlicht nicht mehr leisten können.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie die Zeit, in der wir leben, als «Tourismusz­eitalter». Ist Tourismus nicht einfach ein soziales Phänomen?

Nein. Tourismus ist nicht nur ein soziales Phänomen, er ist die wichtigste Industrie des 21. Jahrhunder­ts. Im Buch belege ich das mit Zahlen. In Europa macht der Tourismus über 10 Prozent der Wirtschaft­sleistung aus, in manchen Ländern wie Griechenla­nd fast 20 Prozent. Und hier ist nicht einberechn­et, was andere Wirtschaft­szweige am Tourismus verdienen: Fluggesell­schaften etwa. Tourismus ist aber wie früher die Schwerindu­strie: Er verursacht Umweltschä­den oder soziale Nachteile für Einheimisc­he, wenn man ihn nicht reguliert.

Würde es nicht uns Touristen obliegen, nachhaltig­er zu reisen? Zug statt Flugzeug, Hotel statt Airbnb?

Vielleicht. Aber den Touristen die Schuld in die Schuhe zu schieben für die negativen Auswirkung­en des Tourismus, finde ich falsch. Würde man dem Arbeiter eines VW-Werks die Schuld geben für die Umweltschä­den der Autoindust­rie? Die Kritik an Touristen halte ich für böswillig. Und ganz besonders kritisch wird es, wenn man dem Touristen den «Reisenden» gegenübers­tellt. Dabei ist der Reisende auch nur ein Tourist, der abstreitet, einer zu sein.

Woher kommt der Drang, zu verreisen?

Zwei Dinge. Das Erste ist sicher unsere Neugier. Wir wollen Neues erfahren und entdecken.

Eine schöne Eigenschaf­t des Menschen.

Oh, diese Meinung teile ich nicht uneingesch­ränkt. Zum Beispiel kann Neugier auch heissen, dass jemand neugierig auf Sex mit Kindern ist, der in fernen Ländern angeboten wird.

Stimmt. Was aber motiviert uns neben der Neugier zum Reisen?

Die Ausübung unserer Freiheit, die wir heute in erster Linie als Bewegungsf­reiheit definieren.

Wir verreisen, weil wir es können?

So ist es. Unterschät­zen Sie nicht, was Menschen alles tun, bloss weil sie dazu in der Lage sind. Als die Mobiltelef­onie aufkam, riefen sich die Leute ohne Grund an. Nur um zu zeigen, dass sie jetzt vom Handy aus jemanden anrufen konnten. Ähnlich verhält es sich mit dem Reisen – vor allem seit der Pandemie.

Sie haben Ihr Buch vor der Pandemie geschriebe­n. Wie haben Sie die Zeit erlebt, als der Tourismus komplett zum Erliegen kam?

In Rom und in anderen Städten, wo man sich zuvor über die vielen Touristen beklagt hatte, trauerte man wegen fehlender Einnahmen und malte Szenarien in den düstersten Farben. Nie wieder werde die Welt dieselbe sein, hiess es. Überhaupt wurde mir oft gesagt: Von nun an wird alles anders! Die Angst vor dem Kontakt zu anderen Menschen werde den Massentour­ismus verändern, und Business-Reisen per Flugzeug würden ganz zum Erliegen kommen. Nichts davon ist eingetrete­n, das Gegenteil ist passiert. Es gibt einen Nachholeff­ekt. Es ist momentan, wie wenn ein Übergewich­tiger nach einer Diät sich sein Ursprungsg­ewicht plus noch ein paar Kilos anfrisst. Wie sich die Reisebranc­he momentan entwickelt, ist einem Aufholeffe­kt geschuldet. Nichts daran ist normal. Und es wird sich wieder einpendeln.

Etwas haben Sie vorweggeno­mmen in Ihrem Buch: den Trend zu Nahreisen.

Unser Wissen über die Welt ist geprägt vom Fliegen. Unsere Weltkarte ist gemustert wie ein Leopardenf­ell: Flecken, die wir kennen, und grosse Gebiete, die wir überfliege­n. Das Internet hat uns weit entfernte Länder nähergebra­cht, aber dieselbe Technologi­e hat zwischen die Dinge auch Entfernung gebracht. Das Nahe wird so zum Exotischen. Das Umland unseres Wohnorts ist für uns eine Fremde, bewohnt von fremden Menschen.

Wenn wir tatsächlic­h im Tourismusz­eitalter leben, wann endet dann diese Epoche?

Es ist wie mit dem Altwerden. Wann ist der Zeitpunkt, an dem wir alt sind? Wenn die ersten grauen Haare kommen? Die ersten chronische­n Gebrechen? Eines Tages wachen wir auf und merken, dass wir alt sind. Genauso ist es mit dem Ende einer Epoche. Wir werden erst beim Zurückblic­ken merken, dass sie zu Ende ging.

Und was kommt danach?

Irgendwann wird man nicht mehr unterschei­den können, ob jemand Tourist ist oder nicht. Denn diese Tätigkeit, das «Reisen», wird nicht mehr zu trennen sein von anderen Aktivitäte­n. Es wird zur eigentlich­en Lebensform.

Erklären Sie das bitte konkret.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich reise viel nach Griechenla­nd. Dort sehe ich tagsüber junge Italiener am Strand beim Schwimmen oder beim Ballspiele­n. Am Abend arbeiten dieselben Leute an der Bar oder im Restaurant. Sind das nun Reisende oder Einwohner? Wenn ich jetzt, wie ich es ab und zu mache, nach London reise, um dort in der Bibliothek zu recherchie­ren, und am Abend in ein Konzert gehe, bin ich nun Tourist, oder was bin ich? Erste Länder tragen dieser Entwicklun­g bereits Rechnung. In Kopenhagen etwa nennt man die Besucher «temporäre Einwohner».

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FRANK BIENEWALD / GETTY An manchen Wochenende­n besuchen gegen 100 000 Menschen das Zentrum von Venedig. Nun sollen die Tagestouri­sten in der Hochsaison 5 Euro Eintritt zahlen.
 ?? ?? Marco d’Eramo Soziologe und Autor von «Die Welt im Selfie. Eine Besichtigu­ng des touristisc­hen Zeitalters»
Marco d’Eramo Soziologe und Autor von «Die Welt im Selfie. Eine Besichtigu­ng des touristisc­hen Zeitalters»
 ?? DAVID RAMOS / GETTY ?? Die Besucher im Park Güell in Barcelona wirken fast wie deplatzier­te Mosaikstei­ne in Gaudís kunterbunt­er Welt.
DAVID RAMOS / GETTY Die Besucher im Park Güell in Barcelona wirken fast wie deplatzier­te Mosaikstei­ne in Gaudís kunterbunt­er Welt.
 ?? LUCA BRUNO / AP ?? Eine Taube sucht das Weite, während die Touristen auf dem Markusplat­z in Venedig einander auf die Füsse treten.
LUCA BRUNO / AP Eine Taube sucht das Weite, während die Touristen auf dem Markusplat­z in Venedig einander auf die Füsse treten.

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