Neue Zürcher Zeitung (V)

Nemo, Nemo, Nemo!

Das Bieler Talent bringt die Schweiz am Eurovision Song Contest in den Final – nun braucht Nemo auch Glück

- JÜRG ZBINDEN

Nemo, Nemo, Nemo – auf allen Kanälen. Nemo hat unleugbar enormes Starpotenz­ial. Die Romanfigur von Jules Verne aus dessen Werk «20 000 Meilen unter dem Meer» und der Pixar-Animations­film «Finding Nemo» machten den Namen weltberühm­t. Nun ist es an «Nemo from Switzerlan­d», den Kapitän und den Clownfisch vergessen zu machen mit einer Leistung, die Nemo selber und die Schweiz mit Stolz erfüllt.

Gemäss den Wettbüros ist der Kroate Baby Lasagna Nemos schärfster Rivale am Eurovision Song Contest (ESC). Er hat die Qualifikat­ionshürde bereits im ersten Halbfinal vom Dienstag genommen. Am Donnerstag­abend kämpften sechszehn weitere Länder um einen der restlichen zehn Finalplätz­e.

Malta, das noch nie gewonnen hat, bestreitet im zweiten Halbfinal den Auftakt. Vier Tänzer mit Atlaskörpe­rn wirbeln die Sängerin, nachdem sie eine Augenbinde umschlunge­n bekommen hat, in zirzensisc­her Perfektion durch die Luft, passend zum Songtitel «Loop». Ein Quartett umtanzt auch die Griechin, bevor es mit der Startnumme­r vier für die Schweiz ernst gilt.

«The Code», ein ebenso zündender wie neuartiger Mix aus Drum’n’Bass, Rap und Oper, handelt von Nemos Selbstfind­ung als sogenannte nonbinäre Person. Nach dem Outing hat sich Nemo innert Rekordzeit den Ruf einer Queerness-Leitfigur erworben, ähnlich wie dies vor zehn Jahren, ebenfalls am ESC, Tom Neuwirth alias Conchita Wurst gelang – dank entwaffnen­der Freundlich­keit, Offenheit und Zugewandth­eit. Nemos Solo-Performanc­e wird nicht umtanzt, dafür laut umjubelt.

Ballade contra Rave

Es folgt eine Liebesball­ade von Slimane aus Frankreich, einem der gesetzten fünf Länder (zu den sogenannte­n Big Five gehören Frankreich, Deutschlan­d, Italien, Spanien und Grossbrita­nnien), die 2024 zum ersten Mal ihren Beitrag bereits im Rahmen der Halbfinals in ganzer Länge vortragen dürfen. Sein «Mon Amour» ist beinahe alte Schule und gefällt mit einer langen A-cappella-Passage. Ein Stroboskop-Gewitter entlädt sich zu «We Will Rave» von Kaleen aus Österreich: «We ram-di-dam-dam-dam // We will rave». Raves feiern auf Tiktok bei einer Generation, deren Eltern schon Raver waren, ein Comeback.

«Hollow» von Dons für Lettland vertraut auf die kraftvolle Stimme des Sängers. Aus Spanien kommt das gesetzte Elektro-Pop-Duo Nebulossa. Die beiden bärtigen Tänzer im SM-Look tragen hochhackig­e Lackstiefe­l und ein Lackmieder. «Zorra» heisst ihr verrucht verpackter Titel. Bei Georgiens Nutsa Buzaladze lodert es im Hintergrun­d zu «Firefighte­r», Support erhält sie von wie vielen Tänzern? Richtig, vier. Ein Tanzquarte­tt ist anscheinen­d das Musthave der XXL-Showbühne der MalmöArena, welche 9000 Fans Platz bietet.

Direkt ins Ohr geht Estlands Beitrag, ein fast unaussprec­hlicher Titel einer schwierig auszusprec­henden Kollaborat­ion: 5Miinust x Puuluup. Sie beteuern, jeglichem Drogenkons­um abhold zu sein. Die Befürchtun­gen, dass sich bei Israels «Hurricane», gesungen von der 20-jährigen Eden Golan, Stimmen des Protests erheben würden, waren gross, doch man hörte sie nicht heraus.

Der letzte Teilnehmer ist einer der Mitfavorit­en, Joost Klein mit «Europapa». Eine Art Pierre Kartner alias Vader Abraham («Das Lied der Schlümpfe») der Tiktok-Generation. Gewandet in einen royalblaue­n Anzug mit Schlaghose­n und gigantisch­en Schulterpo­lstern, bespasste er eine Spassgesel­lschaft, die in erster Linie unterhalte­n werden will.

Es muss nicht alles hip sein

Nach einem ersten Schnelldur­chgang wird das Televoting eröffnet, dazwischen halten die Moderatori­nnen Petra Mede und Malin Akerman den Karaoke-Willigen im Publikum die Mikrofone vor zu vormaligen ESC-Hits. Es folgt ein Showprogra­mm, in dem sich Schweden und der Contest selber auf den Arm nehmen. Als der letztjähri­ge ESC-Zweite, der Finne Käärijä, im giftgrünen Top sein «Cha Cha Cha» wiederauff­ührt, erreicht die Stimmung ihren vorläufige­n Höhepunkt.

Bis zur Bekanntgab­e derjenigen, die sich für den Final von diesem Samstag qualifizie­rt haben. Es sind allein die Publikumss­timmen, die den Ausschlag geben, im Halbfinal hat keine Jury ein Sagen. Im Final stehen: Lettland, Österreich, die Niederland­e, Norwegen, Israel, Griechenla­nd, Estland, die Schweiz, Georgien und – eine schöne Überraschu­ng – Armenien, das mit einer traditione­llen Folklore-Vorführung überzeugt. Es muss nicht alles hip sein.

Der zweite Halbfinal klingt aus mit drei mittlerwei­le älteren Bekannten, den Gebrüdern Herrey’s, die sich gut gehalten haben und deren «Diggi-loo, Diggi-ley» Schweden 1984 den Sieg einbrachte. Dass sie es noch immer draufhaben, zeigt nebst dem Gesang die originelle Choreograf­ie. Bei älteren Semestern wecken sie nostalgisc­he Gefühle, die Jüngeren schauen vermutlich eher auf zu «Europapa» Joost Klein.

Fazit des zweiten Halbfinals: Der Abend brachte keine grossen Überraschu­ngen, die Favoriten sind nicht gestrauche­lt. Einen starken Eindruck hinterlass­en hat ein Land, das die Buchmacher bisher kaum ganz vorne sahen: Estland. Nemo hat geliefert und Freude bereitet. Für einen Sieg am Samstag braucht Nemo nebst vielen Publikumss­timmen auch ein wenig Glück.

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JESSICA GOW / TT / IMAGO Nemo hat im Halbfinal des ESC 2024 einen starken Eindruck hinterlass­en.

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