Pathos und Propaganda
Der russische Präsident Putin tritt im Moskauer Kreml seine fünfte Amtszeit an – das System ist brüchiger geworden
Als das Ehrenregiment auf dem Kathedralenplatz des Moskauer Kremls aufmarschierte, fiel Schneeregen. Durch die Wassertropfen auf den Linsen der Fernsehkameras verschwammen die Aufnahmen. Der eben erst für seine fünfte Amtszeit als russischer Präsident vereidigte Wladimir Putin stand am Fusse der Treppe des Facettenpalasts und musste das Ritual in Nässe und Kälte über sich ergehen lassen: Unverhofft waren in den vergangenen Tagen tiefe Temperaturen und am Dienstag auch Schnee in die Hauptstadt zurückgekehrt.
Das garstige Wetter kontrastierte mit dem Jubelfest, zu dem Politiker und Propagandisten die Amtseinsetzung Putins stilisierten. Putin selbst wirkte seltsam distanziert zu dem Pathos, mit dem das Staatsfernsehen die als «historisches Ereignis» bezeichnete Feierstunde begleitete. So pompös die Kulisse im Andreas-Saal des Grossen Kremlpalasts war, so geschäftsmässig spulte der Präsident das Zeremoniell ab. Auch dessen intimsten Teil konnte das Publikum am Fernsehen so ausführlich wie noch nie miterleben: den Gebetsgottesdienst in der Verkündigungskathedrale mit Patriarch Kirill, der Putin bei der Gelegenheit wünschte, dass dieser bis an das Lebensende herrschen werde.
Konfrontation mit dem Westen
Putin tritt seine fünfte Amtszeit nur meteorologisch im Regen an. Die vergangenen Wochen und Monate haben das Selbstvertrauen des Regimes gestärkt. Verdrängt sind der schreckliche Terroranschlag auf die Crocus City Hall in Moskau, die kuriose oder doch bedrohliche Rebellion Jewgeni Prigoschins und die Rückschläge auf den Schlachtfeldern der Ukraine. Von der Front gibt es jetzt Siegesmeldungen. Kriegsteilnehmer sind allesamt Helden und stehen an der Schwelle dazu, die neue Elite zu werden. Der Krieg ist zu etwas viel Grösserem und zugleich Alltäglichem geworden: Er wird erzählt als die Konfrontation mit dem «kollektiven Westen», der vom argwöhnisch bewunderten Partner zum verachteten Feind geworden ist.
Aus dieser Konfrontation schöpft Russland laut der offiziellen Propaganda die Kraft, sich auf sich selbst zu besinnen, Einigkeit zu finden und nach innen und aussen Stärke zu zeigen. Für die Selbstvergewisserung braucht es aber nach wie vor die Bestätigung von aussen. Dass von den eingeladenen Botschaftern der EUStaaten nur diejenigen aus Frankreich, Ungarn, Griechenland, Zypern, Malta und der Slowakei an der Inauguration teilnahmen, wurmte einige Funktionäre sichtlich.Als Mantra wiederholen sie, dass eigentlich die Mehrheit der Staatenwelt hinter Russland stehe, auch wenn sich nicht alle trauten, das laut zu sagen. In seiner kurzen Rede zur Amtseinsetzung schob Putin den Ball für den Dialog dem Westen zu: Russland sei dazu bereit, aber nur auf Augenhöhe und wenn der Westen seine aggressive Politik beende.
Wahlsieg instrumentalisiert
Ausdruck der Selbstgewissheit ist für die Propagandisten der «historische Wahlsieg» Putins. Er gibt ihnen und dem Kreml in die Hand, was das Wichtigste überhaupt an dem dreitägigen Wahlprozedere im März gewesen war: die überwältigende Unterstützung für Putin mithilfe der 87 Prozent belegen zu können. Nach aussen soll das zeigen, dass zwischen den Präsidenten und das Volk kein Blatt Papier passt und jegliche spaltende Absicht zum Scheitern verurteilt ist.
Nach innen hilft es bei der Vereinnahmung der Bevölkerung für die Sache des Präsidenten. Nicht nur das Fernsehen, auch Putin beschwor die angebliche Geschlossenheit des russischen Volkes. Wer die Positionen des Regimes nicht teilt, wird im günstigsten Fall in die Ecke der «ausländischen Agenten» geschoben. Diesen ist von der Staatsduma am Montag das passive Wahlrecht genommen worden, so dass sie definitiv zu Bürgern zweiter Klasse werden. Immer häufiger aber werden aus denen, die abweichende Meinungen vertreten, Extremisten oder gar Terroristen gemacht, mit drastischen strafrechtlichen Konsequenzen.
In Wahrheit ist die Gesellschaft weit weniger konsolidiert, als das Regime das weismachen will. Es regieren der Opportunismus, die Gleichgültigkeit und die Anpassung an die neue Normalität. Die Gesellschaft wirkt müde. Putin wies darauf
Ausdruck der Selbstgewissheit ist für die Propagandisten der «historische Wahlsieg» Putins.
hin, dass nun erst recht Stabilität nötig sei, eine Stabilität, die aber nicht zur Trägheit werde, sondern Flexibilität zulasse.
Vielen Bürgern, auch solchen, die sich mit dem Krieg und der politischen Ordnung arrangiert haben, fehlt aber eine Perspektive. Der Krieg hat das Stabilitätsversprechen erschüttert. Sie empfinden Stagnation, auch wenn das Regime gerade die Sanktions- und Kriegsbedingungen als Aufbruch verkauft. Sie haben in die staatlichen Akteure, mit Ausnahme Putins, wenig Vertrauen. Zugleich lassen sie sich davon einlullen, dass der Staat ihnen Grösse verspricht.
Das war schon vor sechs Jahren so, als Putin seine vierte Amtszeit antrat. Seither krempelte er das politische System um, verlängerte mit den Verfassungsänderungen von 2020 sein Verbleiben an der Macht ab 2024 um weitere zwölf Jahre und nutzte die Pandemie und dann den Krieg, um seinen Gegnern jede Luft zum Atmen zu nehmen. Für die herrschende Clique, die in Putins Alter steht, sind die Ungeduld nachrückender Beamtengenerationen, vor allem aber Krankheit und Tod die gefährlichsten Opponenten. Patriarch Kirills Wunsch, Putin möge bis ans Lebensende regieren, ist von geradezu entwaffnender Ehrlichkeit.