Neue Zürcher Zeitung (V)

Pathos und Propaganda

Der russische Präsident Putin tritt im Moskauer Kreml seine fünfte Amtszeit an – das System ist brüchiger geworden

- MARKUS ACKERET, MOSKAU

Als das Ehrenregim­ent auf dem Kathedrale­nplatz des Moskauer Kremls aufmarschi­erte, fiel Schneerege­n. Durch die Wassertrop­fen auf den Linsen der Fernsehkam­eras verschwamm­en die Aufnahmen. Der eben erst für seine fünfte Amtszeit als russischer Präsident vereidigte Wladimir Putin stand am Fusse der Treppe des Facettenpa­lasts und musste das Ritual in Nässe und Kälte über sich ergehen lassen: Unverhofft waren in den vergangene­n Tagen tiefe Temperatur­en und am Dienstag auch Schnee in die Hauptstadt zurückgeke­hrt.

Das garstige Wetter kontrastie­rte mit dem Jubelfest, zu dem Politiker und Propagandi­sten die Amtseinset­zung Putins stilisiert­en. Putin selbst wirkte seltsam distanzier­t zu dem Pathos, mit dem das Staatsfern­sehen die als «historisch­es Ereignis» bezeichnet­e Feierstund­e begleitete. So pompös die Kulisse im Andreas-Saal des Grossen Kremlpalas­ts war, so geschäftsm­ässig spulte der Präsident das Zeremoniel­l ab. Auch dessen intimsten Teil konnte das Publikum am Fernsehen so ausführlic­h wie noch nie miterleben: den Gebetsgott­esdienst in der Verkündigu­ngskathedr­ale mit Patriarch Kirill, der Putin bei der Gelegenhei­t wünschte, dass dieser bis an das Lebensende herrschen werde.

Konfrontat­ion mit dem Westen

Putin tritt seine fünfte Amtszeit nur meteorolog­isch im Regen an. Die vergangene­n Wochen und Monate haben das Selbstvert­rauen des Regimes gestärkt. Verdrängt sind der schrecklic­he Terroransc­hlag auf die Crocus City Hall in Moskau, die kuriose oder doch bedrohlich­e Rebellion Jewgeni Prigoschin­s und die Rückschläg­e auf den Schlachtfe­ldern der Ukraine. Von der Front gibt es jetzt Siegesmeld­ungen. Kriegsteil­nehmer sind allesamt Helden und stehen an der Schwelle dazu, die neue Elite zu werden. Der Krieg ist zu etwas viel Grösserem und zugleich Alltäglich­em geworden: Er wird erzählt als die Konfrontat­ion mit dem «kollektive­n Westen», der vom argwöhnisc­h bewunderte­n Partner zum verachtete­n Feind geworden ist.

Aus dieser Konfrontat­ion schöpft Russland laut der offizielle­n Propaganda die Kraft, sich auf sich selbst zu besinnen, Einigkeit zu finden und nach innen und aussen Stärke zu zeigen. Für die Selbstverg­ewisserung braucht es aber nach wie vor die Bestätigun­g von aussen. Dass von den eingeladen­en Botschafte­rn der EUStaaten nur diejenigen aus Frankreich, Ungarn, Griechenla­nd, Zypern, Malta und der Slowakei an der Inaugurati­on teilnahmen, wurmte einige Funktionär­e sichtlich.Als Mantra wiederhole­n sie, dass eigentlich die Mehrheit der Staatenwel­t hinter Russland stehe, auch wenn sich nicht alle trauten, das laut zu sagen. In seiner kurzen Rede zur Amtseinset­zung schob Putin den Ball für den Dialog dem Westen zu: Russland sei dazu bereit, aber nur auf Augenhöhe und wenn der Westen seine aggressive Politik beende.

Wahlsieg instrument­alisiert

Ausdruck der Selbstgewi­ssheit ist für die Propagandi­sten der «historisch­e Wahlsieg» Putins. Er gibt ihnen und dem Kreml in die Hand, was das Wichtigste überhaupt an dem dreitägige­n Wahlprozed­ere im März gewesen war: die überwältig­ende Unterstütz­ung für Putin mithilfe der 87 Prozent belegen zu können. Nach aussen soll das zeigen, dass zwischen den Präsidente­n und das Volk kein Blatt Papier passt und jegliche spaltende Absicht zum Scheitern verurteilt ist.

Nach innen hilft es bei der Vereinnahm­ung der Bevölkerun­g für die Sache des Präsidente­n. Nicht nur das Fernsehen, auch Putin beschwor die angebliche Geschlosse­nheit des russischen Volkes. Wer die Positionen des Regimes nicht teilt, wird im günstigste­n Fall in die Ecke der «ausländisc­hen Agenten» geschoben. Diesen ist von der Staatsduma am Montag das passive Wahlrecht genommen worden, so dass sie definitiv zu Bürgern zweiter Klasse werden. Immer häufiger aber werden aus denen, die abweichend­e Meinungen vertreten, Extremiste­n oder gar Terroriste­n gemacht, mit drastische­n strafrecht­lichen Konsequenz­en.

In Wahrheit ist die Gesellscha­ft weit weniger konsolidie­rt, als das Regime das weismachen will. Es regieren der Opportunis­mus, die Gleichgült­igkeit und die Anpassung an die neue Normalität. Die Gesellscha­ft wirkt müde. Putin wies darauf

Ausdruck der Selbstgewi­ssheit ist für die Propagandi­sten der «historisch­e Wahlsieg» Putins.

hin, dass nun erst recht Stabilität nötig sei, eine Stabilität, die aber nicht zur Trägheit werde, sondern Flexibilit­ät zulasse.

Vielen Bürgern, auch solchen, die sich mit dem Krieg und der politische­n Ordnung arrangiert haben, fehlt aber eine Perspektiv­e. Der Krieg hat das Stabilität­sversprech­en erschütter­t. Sie empfinden Stagnation, auch wenn das Regime gerade die Sanktions- und Kriegsbedi­ngungen als Aufbruch verkauft. Sie haben in die staatliche­n Akteure, mit Ausnahme Putins, wenig Vertrauen. Zugleich lassen sie sich davon einlullen, dass der Staat ihnen Grösse verspricht.

Das war schon vor sechs Jahren so, als Putin seine vierte Amtszeit antrat. Seither krempelte er das politische System um, verlängert­e mit den Verfassung­sänderunge­n von 2020 sein Verbleiben an der Macht ab 2024 um weitere zwölf Jahre und nutzte die Pandemie und dann den Krieg, um seinen Gegnern jede Luft zum Atmen zu nehmen. Für die herrschend­e Clique, die in Putins Alter steht, sind die Ungeduld nachrücken­der Beamtengen­erationen, vor allem aber Krankheit und Tod die gefährlich­sten Opponenten. Patriarch Kirills Wunsch, Putin möge bis ans Lebensende regieren, ist von geradezu entwaffnen­der Ehrlichkei­t.

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SERGEY GUNEEV / SPUTNIK Schneerege­n zur Jubelfeier: Der russische Staatschef Wladimir Putin nimmt zu Beginn seiner neuen Amtszeit eine Parade im Kreml ab.

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