Brüssel führt die Bürger an der Nase herum
Ende April fand in Maastricht eine Art Demokratiesimulation statt. Fünf Männer und drei Frauen betraten eine Theaterbühne in der niederländischen Universitätsstadt und lieferten sich als sogenannte Spitzenkandidaten ihrer Parteien einen Schlagabtausch. Es ging um den Klimawandel, um die Kriege in Europas Nachbarschaft, um Korruption, Migration, vor allem aber darum, wer im EU-Parlament mit wem kann. Wer sich für den Brüsseler Politikbetrieb begeistern kann, der mochte in der gut eineinhalbstündigen Debatte die «heisse Phase des Europa-Wahlkampfes» eingeleitet sehen. Für alle anderen fiel in Maastricht nur ein Sack Reis um. Gerade einmal 15 000 Zuschauer verfolgten den Auftritt via Livestream – bei 373 Millionen Wahlberechtigten in der EU eine überschaubare Grösse.
Die Vertreterin der christlichdemokratischen Europäischen Volkspartei, Ursula von der Leyen, war die Hauptdarstellerin des Abends. Sie ist die Präsidentin der EU-Kommission und möchte es auch nach der Wahl im Juni sein.Allerdings ohne dafür auf irgendeinem Wahlzettel aufzutauchen, denn von der Leyen bewirbt sich gar nicht für einen Sitz im Europäischen Parlament.
Schon 2019 hatten ihr nicht die Wähler ins Amt verholfen, sondern Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (der das Parlament schwächen wollte). Fünf Jahre später wurde sie von ihren Parteifreunden zwar zur Spitzenkandidatin erklärt, doch der Machtmechanismus blieb derselbe: Nicht Wahlergebnisse, sondern Absprachen im Europäischen Rat entscheiden, wer am Ende in das BerlaymontGebäude einziehen darf.
In Maastricht wurde den Wählern dennoch vorgegaukelt, in dieser Frage eine Wahl zu haben. Von der Leyens Kontrahenten wurden vorgeführt als Spitzenkandidaten, und das heisst formal gesehen immer noch: als Bewerber um den Kommissionsvorsitz. Wie in einer echten Elefantenrunde beantworteten die Protagonisten brav die Fragen der Moderatorinnen und attackierten sich auch gegenseitig.
Einige Journalisten machten sich danach sogar die Mühe, Gewinner und Verlierer zu benennen. Sie lobten den grünen Niederländer Bas Eickhout für seine Streitlust oder fanden, dass der Luxemburger EU-Arbeitskommissar Nicolas Schmit, der für die Sozialdemokraten ins Rennen geschickt worden war, zu artig gewesen sei. Der breiten Öffentlichkeit dürften beide Namen nichts sagen. Ganz zu schweigen von einem Herrn Valeriu Ghiletchi aus der Moldau, dem Frontmann der Europäischen Christlichen Bewegung.
Am meisten beschäftigte die «Brüsseler Blase» aber, dass von der Leyen auf Nachfrage eine Zusammenarbeit mit der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) nicht ausschliessen wollte. Die Fraktion, zu der auch die italienische Regierungspartei von Giorgia Meloni gehört, könnte laut Umfragen zur drittstärksten Kraft im EU-Parlament werden. Um sich eine Mehrheit zu sichern, ist von der Leyen also auch mit den Rechtskonservativen in Kontakt.
Für die Linken und die Grünen im Parlament ist das ein Skandal. Allerdings hatten die meisten von ihnen schon vor fünf Jahren nicht für die Deutsche votiert. Von der Leyen verliess sich stattdessen nicht zuletzt auf die Stimmen des ungarischen Fidesz von Viktor Orban und auf die polnische PiSPartei, um von den Abgeordneten als Kommissionschefin bestätigt zu werden. Die Abstimmung wurde zur Zitterpartie.
Welche Parteien nach dem 6. Juni in der EKRFraktion sitzen werden, ist derzeit offen. Die Empörung über von der Leyens Flirt mit Melonis rechten Fratelli d’Italia ist aber auch deswegen Wahlkampfgetöse, weil es die Zusammenarbeit mit Melonis Regierung auf zwischenstaatlicher Ebene notgedrungen längst gibt.
Viel spannender ist die Frage, ob die zur ProEuropäerin gewandelte Postfaschistin tatsächlich als Königsmacherin für von der Leyen fungieren will. Beide Frauen knüpften in den vergangenen zwei Jahren freundschaftliche Bande. Inzwischen ist aber unklar, ob Meloni die Deutsche noch braucht, um in Brüssel ihre Macht abzusichern. Gerüchteweise lotet sie mit Macron eine Alternative an der Kommissionsspitze aus. Im Gespräch ist der technokratische ehemalige EZB-Chef Mario Draghi.
In den Hauptstädten sind viele unzufrieden mit der Bilanz der Kommissionspräsidentin, mit ihrer überbordenden Klimapolitik, mit der schwächelnden Wirtschaft. Hinzu kommen Vorwürfe der Vetternwirtschaft und der Intransparenz. Ist auch Macron von seinem früheren Schützling abgerückt? Ihr Amt, sagte er kürzlich, dürfe nicht «überpolitisiert» ausgeübt werden, was ein wenig diskreter Seitenhieb auf von der Leyen war. Wird in den Brüsseler Hinterzimmern bereits über ihre Nachfolge verhandelt?
Es ist schon erstaunlich: Bis vor wenigen Wochen schien «Madame Europe» für den Spitzenjob der EU so gut wie gesetzt zu sein. Jetzt scheint ihr Thron auf einmal zu wackeln. Man darf mit Spannung die nächsten Treffen der Staats- und Regierungschefs erwarten und schauen, ob jemand seinen Daumen über von der Leyen hebt oder senkt. Nur die Wähler, so viel ist klar, werden das nicht können. Auch wenn man sich mit Veranstaltungen wie in Maastricht noch so sehr Mühe gibt, diesen Anschein zu erwecken.