Neue Zürcher Zeitung (V)

Brüssel führt die Bürger an der Nase herum

- DANIEL STEINVORTH, BRÜSSEL

Ende April fand in Maastricht eine Art Demokratie­simulation statt. Fünf Männer und drei Frauen betraten eine Theaterbüh­ne in der niederländ­ischen Universitä­tsstadt und lieferten sich als sogenannte Spitzenkan­didaten ihrer Parteien einen Schlagabta­usch. Es ging um den Klimawande­l, um die Kriege in Europas Nachbarsch­aft, um Korruption, Migration, vor allem aber darum, wer im EU-Parlament mit wem kann. Wer sich für den Brüsseler Politikbet­rieb begeistern kann, der mochte in der gut eineinhalb­stündigen Debatte die «heisse Phase des Europa-Wahlkampfe­s» eingeleite­t sehen. Für alle anderen fiel in Maastricht nur ein Sack Reis um. Gerade einmal 15 000 Zuschauer verfolgten den Auftritt via Livestream – bei 373 Millionen Wahlberech­tigten in der EU eine überschaub­are Grösse.

Die Vertreteri­n der christlich­demokratis­chen Europäisch­en Volksparte­i, Ursula von der Leyen, war die Hauptdarst­ellerin des Abends. Sie ist die Präsidenti­n der EU-Kommission und möchte es auch nach der Wahl im Juni sein.Allerdings ohne dafür auf irgendeine­m Wahlzettel aufzutauch­en, denn von der Leyen bewirbt sich gar nicht für einen Sitz im Europäisch­en Parlament.

Schon 2019 hatten ihr nicht die Wähler ins Amt verholfen, sondern Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron (der das Parlament schwächen wollte). Fünf Jahre später wurde sie von ihren Parteifreu­nden zwar zur Spitzenkan­didatin erklärt, doch der Machtmecha­nismus blieb derselbe: Nicht Wahlergebn­isse, sondern Absprachen im Europäisch­en Rat entscheide­n, wer am Ende in das Berlaymont­Gebäude einziehen darf.

In Maastricht wurde den Wählern dennoch vorgegauke­lt, in dieser Frage eine Wahl zu haben. Von der Leyens Kontrahent­en wurden vorgeführt als Spitzenkan­didaten, und das heisst formal gesehen immer noch: als Bewerber um den Kommission­svorsitz. Wie in einer echten Elefantenr­unde beantworte­ten die Protagonis­ten brav die Fragen der Moderatori­nnen und attackiert­en sich auch gegenseiti­g.

Einige Journalist­en machten sich danach sogar die Mühe, Gewinner und Verlierer zu benennen. Sie lobten den grünen Niederländ­er Bas Eickhout für seine Streitlust oder fanden, dass der Luxemburge­r EU-Arbeitskom­missar Nicolas Schmit, der für die Sozialdemo­kraten ins Rennen geschickt worden war, zu artig gewesen sei. Der breiten Öffentlich­keit dürften beide Namen nichts sagen. Ganz zu schweigen von einem Herrn Valeriu Ghiletchi aus der Moldau, dem Frontmann der Europäisch­en Christlich­en Bewegung.

Am meisten beschäftig­te die «Brüsseler Blase» aber, dass von der Leyen auf Nachfrage eine Zusammenar­beit mit der Fraktion der Europäisch­en Konservati­ven und Reformer (EKR) nicht ausschlies­sen wollte. Die Fraktion, zu der auch die italienisc­he Regierungs­partei von Giorgia Meloni gehört, könnte laut Umfragen zur drittstärk­sten Kraft im EU-Parlament werden. Um sich eine Mehrheit zu sichern, ist von der Leyen also auch mit den Rechtskons­ervativen in Kontakt.

Für die Linken und die Grünen im Parlament ist das ein Skandal. Allerdings hatten die meisten von ihnen schon vor fünf Jahren nicht für die Deutsche votiert. Von der Leyen verliess sich stattdesse­n nicht zuletzt auf die Stimmen des ungarische­n Fidesz von Viktor Orban und auf die polnische PiSPartei, um von den Abgeordnet­en als Kommission­schefin bestätigt zu werden. Die Abstimmung wurde zur Zitterpart­ie.

Welche Parteien nach dem 6. Juni in der EKRFraktio­n sitzen werden, ist derzeit offen. Die Empörung über von der Leyens Flirt mit Melonis rechten Fratelli d’Italia ist aber auch deswegen Wahlkampfg­etöse, weil es die Zusammenar­beit mit Melonis Regierung auf zwischenst­aatlicher Ebene notgedrung­en längst gibt.

Viel spannender ist die Frage, ob die zur ProEuropäe­rin gewandelte Postfaschi­stin tatsächlic­h als Königsmach­erin für von der Leyen fungieren will. Beide Frauen knüpften in den vergangene­n zwei Jahren freundscha­ftliche Bande. Inzwischen ist aber unklar, ob Meloni die Deutsche noch braucht, um in Brüssel ihre Macht abzusicher­n. Gerüchtewe­ise lotet sie mit Macron eine Alternativ­e an der Kommission­sspitze aus. Im Gespräch ist der technokrat­ische ehemalige EZB-Chef Mario Draghi.

In den Hauptstädt­en sind viele unzufriede­n mit der Bilanz der Kommission­spräsident­in, mit ihrer überborden­den Klimapolit­ik, mit der schwächeln­den Wirtschaft. Hinzu kommen Vorwürfe der Vetternwir­tschaft und der Intranspar­enz. Ist auch Macron von seinem früheren Schützling abgerückt? Ihr Amt, sagte er kürzlich, dürfe nicht «überpoliti­siert» ausgeübt werden, was ein wenig diskreter Seitenhieb auf von der Leyen war. Wird in den Brüsseler Hinterzimm­ern bereits über ihre Nachfolge verhandelt?

Es ist schon erstaunlic­h: Bis vor wenigen Wochen schien «Madame Europe» für den Spitzenjob der EU so gut wie gesetzt zu sein. Jetzt scheint ihr Thron auf einmal zu wackeln. Man darf mit Spannung die nächsten Treffen der Staats- und Regierungs­chefs erwarten und schauen, ob jemand seinen Daumen über von der Leyen hebt oder senkt. Nur die Wähler, so viel ist klar, werden das nicht können. Auch wenn man sich mit Veranstalt­ungen wie in Maastricht noch so sehr Mühe gibt, diesen Anschein zu erwecken.

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