Der EGMR hat sich in die Politik verirrt
Mit seinem Urteil im Klimaseniorinnen-Fall könnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sich selber und dem Völkerrecht langfristig einen Bärendienst erweisen. Die Probleme beginnen bereits bei den Beschwerdeführenden. Es handelt sich beim erfolgreichen Verein Klimaseniorinnen Schweiz keinesfalls um ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen, wie man sie sich gemeinhin vorstellt und wie der EGMR sie häufig schützt, etwa in Urteilen zum Schutz sexueller oder ethnischer Minderheiten. Vielmehr stand mit Greenpeace eine der weltweit einflussreichsten Umweltschutzorganisationen hinter der Beschwerde. Dank Greenpeace verfügte der Verein Klimaseniorinnen Schweiz über enorme Ressourcen.
Der Entscheid im Klimaseniorinnen-Fall steht zudem nicht in der Reihe von Urteilen, mit denen individuelle Opfer gravierender Ungerechtigkeiten geschützt werden, sondern kommt einem jener Urteile gleich, die unter dem Stichwort «judicial mega politics» diskutiert werden: Obschon ein Gerichtsurteil, beschäftigt er sich mit einer der ganz grossen politischen Kontroversen unserer Zeit.
Nun sind aber Gerichte und deren Verfahren nicht darauf ausgelegt, über die grossen politischen Probleme einer Gesellschaft zu entscheiden. Hier ist die Politik gefordert, wo grundsätzlich alle Interessengruppen – und erst recht einflussreiche NGO wie Greenpeace – Gehör finden.
Die Mitgliedstaaten des EGMR haben in ihrer Rolle als Völkerrechtssetzer vor wenigen Jahren klargestellt, dass der Gerichtshof gegenüber den staatlichen Behörden bloss eine subsidiäre Rolle spielen soll. Jede wichtige Fortentwicklung des Rechts der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) muss deshalb von den Staaten ausgehen, bevor sie durch den EGMR in einen europaweit geltenden Standard konsolidiert wird. Im Klimaseniorinnen-Fall hat der EGMR diesem Prozess vorgegriffen. In den meisten seiner Mitgliedstaaten ist sich ein Menschenrecht auf Massnahmen gegen den Klimaschutz, wenn überhaupt, erst am Herausbilden. Insbesondere laufen im Europarat zurzeit noch zwischenstaatliche Diskussionen über ein entsprechendes Zusatzprotokoll zur EMRK.
Der Einwand, der EGMR stütze sich doch auf Klimaschutzverpflichtungen, die die Staaten freiwillig eingegangen seien – namentlich das Pariser Klimaabkommen –, hilft nicht. Ganz im Gegenteil deutet er ein weiteres Problem an. Das Mandat des EGMR ist es, die Einhaltung der EMRK zu überwachen, nicht jedoch, andere völkerrechtliche Verpflichtungen der Staaten zu kontrollieren. Wenn sich der EGMR diese Rolle anmasst, riskiert er im schlimmsten Fall, dass er die Staaten zunehmend davon abhält, weitere völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen.
Die Kollateralschäden sind somit gross: Das Urteil giesst Wasser auf die Mühlen der Kritiker des EGMR und anderer internationaler Gerichte. Harmlosere Forderungen nach einer Nichtumsetzung von nicht genehmen Urteilen untergraben deren Autorität, gefährlichere Forderungen gehen dahin, diese Gerichte sogar gleich ganz abzuschaffen.
In materieller Hinsicht könnte das Urteil auch zu der seit langem beklagten generellen Abwertung der Menschenrechte beitragen. Je mehr rechtlich verbindliche, gerichtlich abgesicherte Menschenrechtsgarantien zur Lösung gesamtgesellschaftlich hochkontroverser Fragen hinzugezogen werden, desto stärker werden sie selber politisiert – und damit den politischen Launen anheimgestellt, vor denen sie eigentlich schützen sollen.
Umgekehrt kann das, was in den Bereich des Politischen gehört – wie eben auch der Umgang mit dem Klimawandel –, durch seine Vergerichtlichung Schaden nehmen. Gerichtsurteile können die zur Kompromissfindung notwendige Verhandlungsmasse schmälern oder dazu führen, dass sich die Politik im Vertrauen auf die Gerichte aus ihrer Verantwortung zurückzieht. Die Menschenrechte und ihr Schutz durch den EGMR einerseits und die Bekämpfung des Klimawandels andererseits sind zu wichtig, als dass wir sie zu dieser gefährlichen Mischung vermengen sollten.
ist Jurist und hat sich wissenschaftlich u. a. mit der Subsidiarität des EGMR befasst («Subsidiarity, Legitimacy, and the European Court of Human Rights», Oxford University Press, erscheint 2025).