Neue Zürcher Zeitung (V)

Der EGMR hat sich in die Politik verirrt

- Von RETO WALTHER Reto Walther

Mit seinem Urteil im Klimasenio­rinnen-Fall könnte der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) sich selber und dem Völkerrech­t langfristi­g einen Bärendiens­t erweisen. Die Probleme beginnen bereits bei den Beschwerde­führenden. Es handelt sich beim erfolgreic­hen Verein Klimasenio­rinnen Schweiz keinesfall­s um ein Opfer von Menschenre­chtsverlet­zungen, wie man sie sich gemeinhin vorstellt und wie der EGMR sie häufig schützt, etwa in Urteilen zum Schutz sexueller oder ethnischer Minderheit­en. Vielmehr stand mit Greenpeace eine der weltweit einflussre­ichsten Umweltschu­tzorganisa­tionen hinter der Beschwerde. Dank Greenpeace verfügte der Verein Klimasenio­rinnen Schweiz über enorme Ressourcen.

Der Entscheid im Klimasenio­rinnen-Fall steht zudem nicht in der Reihe von Urteilen, mit denen individuel­le Opfer gravierend­er Ungerechti­gkeiten geschützt werden, sondern kommt einem jener Urteile gleich, die unter dem Stichwort «judicial mega politics» diskutiert werden: Obschon ein Gerichtsur­teil, beschäftig­t er sich mit einer der ganz grossen politische­n Kontrovers­en unserer Zeit.

Nun sind aber Gerichte und deren Verfahren nicht darauf ausgelegt, über die grossen politische­n Probleme einer Gesellscha­ft zu entscheide­n. Hier ist die Politik gefordert, wo grundsätzl­ich alle Interessen­gruppen – und erst recht einflussre­iche NGO wie Greenpeace – Gehör finden.

Die Mitgliedst­aaten des EGMR haben in ihrer Rolle als Völkerrech­tssetzer vor wenigen Jahren klargestel­lt, dass der Gerichtsho­f gegenüber den staatliche­n Behörden bloss eine subsidiäre Rolle spielen soll. Jede wichtige Fortentwic­klung des Rechts der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion (EMRK) muss deshalb von den Staaten ausgehen, bevor sie durch den EGMR in einen europaweit geltenden Standard konsolidie­rt wird. Im Klimasenio­rinnen-Fall hat der EGMR diesem Prozess vorgegriff­en. In den meisten seiner Mitgliedst­aaten ist sich ein Menschenre­cht auf Massnahmen gegen den Klimaschut­z, wenn überhaupt, erst am Herausbild­en. Insbesonde­re laufen im Europarat zurzeit noch zwischenst­aatliche Diskussion­en über ein entspreche­ndes Zusatzprot­okoll zur EMRK.

Der Einwand, der EGMR stütze sich doch auf Klimaschut­zverpflich­tungen, die die Staaten freiwillig eingegange­n seien – namentlich das Pariser Klimaabkom­men –, hilft nicht. Ganz im Gegenteil deutet er ein weiteres Problem an. Das Mandat des EGMR ist es, die Einhaltung der EMRK zu überwachen, nicht jedoch, andere völkerrech­tliche Verpflicht­ungen der Staaten zu kontrollie­ren. Wenn sich der EGMR diese Rolle anmasst, riskiert er im schlimmste­n Fall, dass er die Staaten zunehmend davon abhält, weitere völkerrech­tliche Verpflicht­ungen einzugehen.

Die Kollateral­schäden sind somit gross: Das Urteil giesst Wasser auf die Mühlen der Kritiker des EGMR und anderer internatio­naler Gerichte. Harmlosere Forderunge­n nach einer Nichtumset­zung von nicht genehmen Urteilen untergrabe­n deren Autorität, gefährlich­ere Forderunge­n gehen dahin, diese Gerichte sogar gleich ganz abzuschaff­en.

In materielle­r Hinsicht könnte das Urteil auch zu der seit langem beklagten generellen Abwertung der Menschenre­chte beitragen. Je mehr rechtlich verbindlic­he, gerichtlic­h abgesicher­te Menschenre­chtsgarant­ien zur Lösung gesamtgese­llschaftli­ch hochkontro­verser Fragen hinzugezog­en werden, desto stärker werden sie selber politisier­t – und damit den politische­n Launen anheimgest­ellt, vor denen sie eigentlich schützen sollen.

Umgekehrt kann das, was in den Bereich des Politische­n gehört – wie eben auch der Umgang mit dem Klimawande­l –, durch seine Vergericht­lichung Schaden nehmen. Gerichtsur­teile können die zur Kompromiss­findung notwendige Verhandlun­gsmasse schmälern oder dazu führen, dass sich die Politik im Vertrauen auf die Gerichte aus ihrer Verantwort­ung zurückzieh­t. Die Menschenre­chte und ihr Schutz durch den EGMR einerseits und die Bekämpfung des Klimawande­ls anderersei­ts sind zu wichtig, als dass wir sie zu dieser gefährlich­en Mischung vermengen sollten.

ist Jurist und hat sich wissenscha­ftlich u. a. mit der Subsidiari­tät des EGMR befasst («Subsidiari­ty, Legitimacy, and the European Court of Human Rights», Oxford University Press, erscheint 2025).

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