Wie ein Horrorfilm, der nicht endet
Kein frisches Wasser, kein Strom und kaum etwas zu essen – seit Monaten lebt Imad Harazin samt Familie als Flüchtling im Gazastreifen
Seit bald sieben Monaten herrscht Krieg im Gazastreifen. Der Grossteil der Bevölkerung ist auf der Flucht, die Versorgungslage ist desaströs, im Norden des Küstenstreifens herrscht Hunger. Das Gesundheitssystem ist weitgehend zusammengebrochen. In letzter Zeit haben die Kämpfe zwar nachgelassen, doch noch immer kommen viel zu wenig Lebensmittel über die Grenze. Für die 2,3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser ist es ein täglicher Kampf ums Überleben.
Die NZZ hat eine Familie im Süden des Gazastreifens sechs Tage lang in ihrem Alltag begleitet. Da ausländische Journalisten seit Beginn des Krieges nicht in den Gazastreifen reisen dürfen, hat ein lokaler Mitarbeiter die folgenden Ausführungen vor Ort aufgezeichnet und in Sprachnachrichten und Telefonanrufen an die NZZ übermittelt.
Es ist noch früh am Tag, als Imad Harazin eine Apotheke in Rafah betritt. Nach bald sieben Monaten Krieg sind auch hier im äussersten Süden des Gazastreifens kaum mehr Medikamente zu finden. In der Stadt an der Grenze zu Ägypten sind nur noch wenige Apotheken funktionstüchtig. Aber Imad hat Glück. Er kennt den Apotheker und bekommt deshalb Schmerztabletten und Pillen gegen Magenbeschwerden.
Der 56-Jährige hatte vor dem Krieg in Gaza ein gutes Leben. «Ich war Pharmazeut und hatte ein Medikamentenlager im Wert von 500 000 Dollar», sagt er. Aber davon sei nach der Zerstörung der Stadt nichts mehr übrig, genauso wenig wie von seinem Haus im Viertel alRimal. «Als der Krieg losging, warnten uns die Israeli mit Flugblättern. Dann fingen die Bombardierungen an. Ich habe meine Verwandtschaft zusammengetrommelt, und wir sind geflohen.»
Erst ging die Familie nach Khan Yunis in der Mitte des Gazastreifens. Seit zwei Monaten nun lebt sie in Rafah. Der Grenzort ist voller Flüchtlinge, viele vegetieren seit Monaten in Zelten vor sich hin. Imad hatte noch Glück: Gemeinsam mit sechzehn Verwandten hat er ein kleines Haus im Yebna-Viertel gemietet. Seither lebt er hier, in drei Zimmern zusammengedrängt mit seiner Frau, seinen fünf Kindern, seiner Mutter und den Familien seiner beiden Schwestern.
Kochen über offenem Feuer
Für das Haus zahlt er im Monat umgerechnet 500 Dollar Miete. Leisten kann er sich die Miete nur, weil er Medikamente auf dem Schwarzmarkt verkauft. Der Pharmazeut bezieht sie über Kontakte bei Apothekern wie an diesem Morgen und von Spitälern, die Hilfslieferungen unter der Hand zu Geld machen. Teile davon verkauft er dann weiter. «Aber nur an vermögende Leute, um meiner Familie das Überleben zu sichern», versichert er. An arme Flüchtlinge gebe er die Medikamente hingegen kostenlos ab.
Überprüfen lässt sich das nicht. Doch wenn Imad durch die Strassen von Rafah läuft, nicken ihm überall Leute zu. Auch die palästinensischen Journalisten, die im Grenzort ausharren, hat er kostenlos versorgt. Dafür stellen sie ihm ihre Internetverbindung zur Verfügung. Es ist ein guter Tausch. Internet gebe es kaum mehr, schon gar nicht bei ihm zu Hause. «Dabei ist es der einzige Weg, um Kontakt nach draussen zu halten.»
Imads Tochter Dina ist um 6 Uhr früh aufgestanden, wie jeden Morgen. Gemeinsam mit ihrer Mutter kocht die 24-Jährige jeden Tag Essen für alle siebzehn Familienmitglieder, die seit der Flucht aus Gaza in dem Haus leben. Inzwischen ist Vormittag. Die Frauen hantieren mit ein paar verbeulten Töpfen und schneiden Gemüse. «Die ganze Arbeit mit allen Vorbereitungen nimmt mindestens den halben Tag in Anspruch», sagt Dina.
Denn weil es kein Gas gibt, kochen die Frauen über offenem Feuer im verwilderten Garten ihres Hauses. Das Holz dafür sammeln die Kinder der Familie in den Strassen der Umgebung. Wie jeden Tag war der Vater Imad bereits frühmorgens in Rafah unterwegs, um Medikamente zu verkaufen. Mit dem Geld hat er bei den fliegenden Händlern am Strassenrand zu überteuerten Preisen einige Lebensmittel besorgt.
Weil an diesem Tag Besuch da ist, hat Imad sogar Poulet mitgebracht. «Ich will nicht, dass alle sehen, wie ärmlich wir leben», sagt er. Für gewöhnlich kann sich die Familie kein Fleisch leisten. Meist gibt es Kartoffeln, etwas Käse, Brot, Gemüse oder Konserven. Im Vergleich zum Norden, wo die Leute in der Not Tierfutter essen, ist in Rafah noch mehr erhältlich. «Doch die Preise für Lebensmittel sind extrem hoch», sagt Dina. Vier bis fünf Tomaten kosteten inzwischen bis zu vier Dollar.
Noch immer lässt Israel viel zu wenig Lastwagen über die Grenzübergänge. Hilfsgüter bekommt die Familie so gut wie nie zu sehen – und wenn, dann nur als überteuerte Schwarzmarktware. Zudem kann der Weg zum Markt gefährlich sein. Zu Beginn des Krieges wurde einer von Imads Söhnen in Gaza auf dem Weg zum Supermarkt verletzt, als in der Nähe eine Bombe fiel. «Er bekam ein Trümmerteil ab», sagt der Vater. «Er hatte Glück. Aber seither ist er traumatisiert.»
Von Imads engerer Familie haben bisher alle den Krieg überlebt. Damit hatte sie Glück – laut dem Gesundheitsministerium wurden bereits über 34 000 Menschen getötet, mehr als 77 000 verletzt. Zu seiner weiteren Verwandtschaft hat Imad aber keinen Kontakt mehr. Sie sei über den ganzen Gazastreifen verteilt, sagt er. Ob sie noch am Leben ist, weiss er nicht. «Es gibt ja keine Möglichkeit, das herauszufinden.» Das Internet funktioniert nur sporadisch, viele haben auch ihre Handys verloren.
«Wenn ein Geist aus einer Flasche käme und ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir Folgendes wünschen: dass das nur ein Albtraum war.» Mohammed Harazin Jüngster Sohn von Imad Harazin
Sie waschen sich alle zehn Tage
Es ist Zeit zum Abendessen. Dina serviert das Essen im Garten. Fotografieren lassen will sie sich dabei nicht, genauso wenig wie ihre Mutter. Sie wolle nicht so gesehen werden. «Wir waschen uns höchsten einmal in der Woche oder alle zehn Tage», sagt sie. Das Wasser sei zu kostbar und müsse zudem immer aufgekocht werden. «Vor allem im Winter, mit der Kälte, war das ein Problem.»
Die meisten Tage verlaufen für Imads Familie gleich: Wasser holen, Essen kaufen, kochen. Den Rest der Zeit verbringt die Familie mit Nichtstun. Wenn Besuch kommt, setzt sich Imad auf einen der
Plastikstühle im Garten und trinkt Kaffee. Kaffee ist eines der wenigen Dinge, die weiterhin leicht zu finden sind. Für den Pharmazeuten ist das Nichtstun schwierig. «Früher bin ich viel gereist, nach Ägypten, Griechenland oder Dubai, auf Kongresse. Jetzt sitze ich hier.»
Das Leben seiner Tochter Dina wurde ebenfalls von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Sie war gerade mit ihrem Informatikstudium an der Al-Azhar-Universität in Gaza fertig geworden und hatte angefangen, in einer lokalen Firma zu arbeiten, als der Krieg ausbrach. Ihre Familie gehörte dem oberen Mittelstand an. Sie habe trotz der Blockade des Gazastreifens durch Israel und Ägypten vor dem Krieg ein gutes Leben gehabt, sagt sie. «Doch davon ist nichts mehr übrig.»
Die Strasse ist zu gefährlich
Ganz besonders fehlt ihr das Elternhaus im Viertel al-Rimal, in dem sie unweit der Mittelmeerküste aufgewachsen ist und bis zum Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober gewohnt hat. Es sei ein schönes Haus gewesen, mit hübscher Einrichtung, drei Stockwerke hoch, sagt Dina. Das alles sei wie ein Horrorfilm, der nie ende. «Alle drei oder vier Jahre bricht ein neuer Krieg aus. So kann man sich doch keine Zukunft aufbauen.»
Wenn sie nicht kochen, sitzen die Frauen der Familie im überwucherten, zugemüllten Garten und reden. Auf die Strassen gehen sie nicht, das wäre zu gefährlich, sagt Dina. Immer wieder kursieren Geschichten über Entführungen und Überfälle. In der von verzweifelten, hungrigen, vielfach obdachlosen Flüchtlingen überfüllten Stadt sind Recht und Ordnung längst zusammengebrochen.
Amirs Aufgabe in der Familie ist es, Wasser zu holen. Der älteste Sohn von Imad geht deshalb jeden Tag zu einem zehn Minuten entfernten Brunnen, den ein paar Männer gegraben haben. Dann schleppt er Wasser ins Haus, immer wieder. Auch heute ist er dafür wie alle Familienmitglieder um 6 Uhr morgens aufgestanden.
Weil siebzehn Personen versorgt werden müssen, muss Amir manchmal bis zu fünfzehnmal zur Quelle laufen. «Wir benutzen Süsswasser zum Kochen und Trinken», sagt er. Geduscht werde hingegen mitunter mit Salzwasser, das vom nahen Meer geholt werde. Aber auch das Trinkwasser schmecke brackig und salzig. Mineralwasser sei unbezahlbar und kaum zu finden.
Amir hat Informatik studiert und als Programmierer gearbeitet. Der 22-Jährige hat immer davon geträumt, nach
Europa oder Nordamerika zu gehen. Stattdessen hat er jetzt nicht einmal mehr einen Computer – denn seiner blieb bei seiner Flucht aus Gaza zurück. Nun versucht er, einen anderen Job zu finden, um Geld zu verdienen. «Ich würde jede Arbeit machen», sagt er. «Aber es gibt keine Jobs in Rafah.»
Am Abend wird es finster im Haus. Strom gibt es keinen. Israel hat gleich zu Beginn des Krieges die Leitungen gekappt, und das einzige Kraftwerk in Gaza hat nach wenigen Wochen den Betrieb eingestellt. Bei Einbruch der Dunkelheit legt sich die Familie deshalb schlafen. Doch der Platz ist begrenzt. Imad hat mit seiner Frau ein Zimmer für sich, die restlichen fünfzehn Bewohner teilen sich die anderen beiden Zimmer. An Schlaf sei oft kaum zu denken, sagt Amir. In der Nacht höre man ständig die Explosionen der israelischen Luftangriffe.
Die Flucht ist teuer
In der Nacht zuvor hat Iran Hunderte von Drohnen und Raketen auf Israel abgefeuert. In Rafah war davon nichts zu sehen, ohnehin haben die Leute andere Sorgen. «Wir sind nur mit dem Überleben beschäftigt», sagt Imad. Auch fürchten viele, dass die israelische Armee bald nach Rafah vorrücken werde. Wohin sie dann fliehen soll, weiss die Familie nicht. Zurück in ihr Haus im Norden ist keine Option, und im Süden liegt die schwer bewachte ägyptische Grenze.
Vor allem die jüngeren Familienmitglieder träumen trotzdem von der Flucht ins Ausland. «Ich hätte niemals hier studieren sollen», sagt Amir. «Ich hätte stattdessen versuchen sollen, aus Gaza wegzugehen.» Seine Schwester Dina sieht das ähnlich. Manchmal hasse sie Gaza regelrecht, sagt sie. Sie wolle unbedingt weg. Und über die Hamas will sie erst recht nicht reden. Von der Politik halte sie nichts.
Dina und Amir planen deshalb, den Gazastreifen um jeden Preis zu verlassen. Doch die Flucht ist teuer. Über 5000 Dollar pro Kopf kostet sie für Erwachsene, mehr als 2000 pro Kind. Das Geld muss an ein ägyptisches Reisebüro überwiesen werden, welches das Monopol innehat. Fast alle Familien im Gazastreifen richten deshalb verzweifelt GoFund-Me-Konten ein. «Wir brauchen 40 000 Dollar, um hier rauszukommen», sagt Dina. Aber auch nach einem Monat ist ihr Konto immer noch leer.
Mohammed hat eine ganz besondere Aufgabe. Imads jüngster Sohn ist dafür zuständig, die Mobiltelefone der Familie zu laden sowie den einzigen Laptop. Deshalb läuft er jeden Tag mit Elektrogeräten und Kabeln beladen ins nahe gelegene Büro von ein paar Journalisten. Die Zeit dort nutzt er dann, um ein bisschen im Internet zu surfen. Denn zu Hause gibt es ja keines.
An diesem Tag soll sich daran endlich etwas ändern. Ein paar der Journalisten, die sein Vater immer wieder behandelt und mit Medikamenten versorgt hat, kommen vorbei und versuchen, im Haus der Familie einen Internetzugang einzurichten. Sie wollen sich ins nahe ägyptische Mobilfunknetz einwählen. Aber der Versuch scheitert. Der Empfang ist zu schwach.
Mohammed, der zuvor ganz aufgeregt war, ist tief enttäuscht. Eigentlich sollte der 15-Jährige ja noch zur Schule gehen. Aber weil es in Rafah keine funktionierenden Schulen mehr gibt, hängt er zu Hause rum und hilft mit, wo er kann. Manchmal läuft er zur knapp einen Kilometer entfernten Grenze. Hinter der Mauer liegt Ägypten, das gelobte Land, wo Frieden herrscht.
Mohammed setzt sich hin und schaut auf den Grenzwall. Dann sagt er: «Wenn ein Geist aus einer Flasche käme und ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir Folgendes wünschen: dass das nur ein Albtraum war. Dass man die Zeit zurückdrehen kann. Und dass alles wieder so wird wie vor dem 7. Oktober.»