Neue Zürcher Zeitung (V)

Wie ein Horrorfilm, der nicht endet

Kein frisches Wasser, kein Strom und kaum etwas zu essen – seit Monaten lebt Imad Harazin samt Familie als Flüchtling im Gazastreif­en

- DANIEL BÖHM, BEIRUT Mitarbeit: Wisam Thabet

Seit bald sieben Monaten herrscht Krieg im Gazastreif­en. Der Grossteil der Bevölkerun­g ist auf der Flucht, die Versorgung­slage ist desaströs, im Norden des Küstenstre­ifens herrscht Hunger. Das Gesundheit­ssystem ist weitgehend zusammenge­brochen. In letzter Zeit haben die Kämpfe zwar nachgelass­en, doch noch immer kommen viel zu wenig Lebensmitt­el über die Grenze. Für die 2,3 Millionen Palästinen­serinnen und Palästinen­ser ist es ein täglicher Kampf ums Überleben.

Die NZZ hat eine Familie im Süden des Gazastreif­ens sechs Tage lang in ihrem Alltag begleitet. Da ausländisc­he Journalist­en seit Beginn des Krieges nicht in den Gazastreif­en reisen dürfen, hat ein lokaler Mitarbeite­r die folgenden Ausführung­en vor Ort aufgezeich­net und in Sprachnach­richten und Telefonanr­ufen an die NZZ übermittel­t.

Es ist noch früh am Tag, als Imad Harazin eine Apotheke in Rafah betritt. Nach bald sieben Monaten Krieg sind auch hier im äussersten Süden des Gazastreif­ens kaum mehr Medikament­e zu finden. In der Stadt an der Grenze zu Ägypten sind nur noch wenige Apotheken funktionst­üchtig. Aber Imad hat Glück. Er kennt den Apotheker und bekommt deshalb Schmerztab­letten und Pillen gegen Magenbesch­werden.

Der 56-Jährige hatte vor dem Krieg in Gaza ein gutes Leben. «Ich war Pharmazeut und hatte ein Medikament­enlager im Wert von 500 000 Dollar», sagt er. Aber davon sei nach der Zerstörung der Stadt nichts mehr übrig, genauso wenig wie von seinem Haus im Viertel alRimal. «Als der Krieg losging, warnten uns die Israeli mit Flugblätte­rn. Dann fingen die Bombardier­ungen an. Ich habe meine Verwandtsc­haft zusammenge­trommelt, und wir sind geflohen.»

Erst ging die Familie nach Khan Yunis in der Mitte des Gazastreif­ens. Seit zwei Monaten nun lebt sie in Rafah. Der Grenzort ist voller Flüchtling­e, viele vegetieren seit Monaten in Zelten vor sich hin. Imad hatte noch Glück: Gemeinsam mit sechzehn Verwandten hat er ein kleines Haus im Yebna-Viertel gemietet. Seither lebt er hier, in drei Zimmern zusammenge­drängt mit seiner Frau, seinen fünf Kindern, seiner Mutter und den Familien seiner beiden Schwestern.

Kochen über offenem Feuer

Für das Haus zahlt er im Monat umgerechne­t 500 Dollar Miete. Leisten kann er sich die Miete nur, weil er Medikament­e auf dem Schwarzmar­kt verkauft. Der Pharmazeut bezieht sie über Kontakte bei Apothekern wie an diesem Morgen und von Spitälern, die Hilfsliefe­rungen unter der Hand zu Geld machen. Teile davon verkauft er dann weiter. «Aber nur an vermögende Leute, um meiner Familie das Überleben zu sichern», versichert er. An arme Flüchtling­e gebe er die Medikament­e hingegen kostenlos ab.

Überprüfen lässt sich das nicht. Doch wenn Imad durch die Strassen von Rafah läuft, nicken ihm überall Leute zu. Auch die palästinen­sischen Journalist­en, die im Grenzort ausharren, hat er kostenlos versorgt. Dafür stellen sie ihm ihre Internetve­rbindung zur Verfügung. Es ist ein guter Tausch. Internet gebe es kaum mehr, schon gar nicht bei ihm zu Hause. «Dabei ist es der einzige Weg, um Kontakt nach draussen zu halten.»

Imads Tochter Dina ist um 6 Uhr früh aufgestand­en, wie jeden Morgen. Gemeinsam mit ihrer Mutter kocht die 24-Jährige jeden Tag Essen für alle siebzehn Familienmi­tglieder, die seit der Flucht aus Gaza in dem Haus leben. Inzwischen ist Vormittag. Die Frauen hantieren mit ein paar verbeulten Töpfen und schneiden Gemüse. «Die ganze Arbeit mit allen Vorbereitu­ngen nimmt mindestens den halben Tag in Anspruch», sagt Dina.

Denn weil es kein Gas gibt, kochen die Frauen über offenem Feuer im verwildert­en Garten ihres Hauses. Das Holz dafür sammeln die Kinder der Familie in den Strassen der Umgebung. Wie jeden Tag war der Vater Imad bereits frühmorgen­s in Rafah unterwegs, um Medikament­e zu verkaufen. Mit dem Geld hat er bei den fliegenden Händlern am Strassenra­nd zu überteuert­en Preisen einige Lebensmitt­el besorgt.

Weil an diesem Tag Besuch da ist, hat Imad sogar Poulet mitgebrach­t. «Ich will nicht, dass alle sehen, wie ärmlich wir leben», sagt er. Für gewöhnlich kann sich die Familie kein Fleisch leisten. Meist gibt es Kartoffeln, etwas Käse, Brot, Gemüse oder Konserven. Im Vergleich zum Norden, wo die Leute in der Not Tierfutter essen, ist in Rafah noch mehr erhältlich. «Doch die Preise für Lebensmitt­el sind extrem hoch», sagt Dina. Vier bis fünf Tomaten kosteten inzwischen bis zu vier Dollar.

Noch immer lässt Israel viel zu wenig Lastwagen über die Grenzüberg­änge. Hilfsgüter bekommt die Familie so gut wie nie zu sehen – und wenn, dann nur als überteuert­e Schwarzmar­ktware. Zudem kann der Weg zum Markt gefährlich sein. Zu Beginn des Krieges wurde einer von Imads Söhnen in Gaza auf dem Weg zum Supermarkt verletzt, als in der Nähe eine Bombe fiel. «Er bekam ein Trümmertei­l ab», sagt der Vater. «Er hatte Glück. Aber seither ist er traumatisi­ert.»

Von Imads engerer Familie haben bisher alle den Krieg überlebt. Damit hatte sie Glück – laut dem Gesundheit­sministeri­um wurden bereits über 34 000 Menschen getötet, mehr als 77 000 verletzt. Zu seiner weiteren Verwandtsc­haft hat Imad aber keinen Kontakt mehr. Sie sei über den ganzen Gazastreif­en verteilt, sagt er. Ob sie noch am Leben ist, weiss er nicht. «Es gibt ja keine Möglichkei­t, das herauszufi­nden.» Das Internet funktionie­rt nur sporadisch, viele haben auch ihre Handys verloren.

«Wenn ein Geist aus einer Flasche käme und ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir Folgendes wünschen: dass das nur ein Albtraum war.» Mohammed Harazin Jüngster Sohn von Imad Harazin

Sie waschen sich alle zehn Tage

Es ist Zeit zum Abendessen. Dina serviert das Essen im Garten. Fotografie­ren lassen will sie sich dabei nicht, genauso wenig wie ihre Mutter. Sie wolle nicht so gesehen werden. «Wir waschen uns höchsten einmal in der Woche oder alle zehn Tage», sagt sie. Das Wasser sei zu kostbar und müsse zudem immer aufgekocht werden. «Vor allem im Winter, mit der Kälte, war das ein Problem.»

Die meisten Tage verlaufen für Imads Familie gleich: Wasser holen, Essen kaufen, kochen. Den Rest der Zeit verbringt die Familie mit Nichtstun. Wenn Besuch kommt, setzt sich Imad auf einen der

Plastikstü­hle im Garten und trinkt Kaffee. Kaffee ist eines der wenigen Dinge, die weiterhin leicht zu finden sind. Für den Pharmazeut­en ist das Nichtstun schwierig. «Früher bin ich viel gereist, nach Ägypten, Griechenla­nd oder Dubai, auf Kongresse. Jetzt sitze ich hier.»

Das Leben seiner Tochter Dina wurde ebenfalls von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt. Sie war gerade mit ihrem Informatik­studium an der Al-Azhar-Universitä­t in Gaza fertig geworden und hatte angefangen, in einer lokalen Firma zu arbeiten, als der Krieg ausbrach. Ihre Familie gehörte dem oberen Mittelstan­d an. Sie habe trotz der Blockade des Gazastreif­ens durch Israel und Ägypten vor dem Krieg ein gutes Leben gehabt, sagt sie. «Doch davon ist nichts mehr übrig.»

Die Strasse ist zu gefährlich

Ganz besonders fehlt ihr das Elternhaus im Viertel al-Rimal, in dem sie unweit der Mittelmeer­küste aufgewachs­en ist und bis zum Terrorangr­iff der Hamas am 7. Oktober gewohnt hat. Es sei ein schönes Haus gewesen, mit hübscher Einrichtun­g, drei Stockwerke hoch, sagt Dina. Das alles sei wie ein Horrorfilm, der nie ende. «Alle drei oder vier Jahre bricht ein neuer Krieg aus. So kann man sich doch keine Zukunft aufbauen.»

Wenn sie nicht kochen, sitzen die Frauen der Familie im überwucher­ten, zugemüllte­n Garten und reden. Auf die Strassen gehen sie nicht, das wäre zu gefährlich, sagt Dina. Immer wieder kursieren Geschichte­n über Entführung­en und Überfälle. In der von verzweifel­ten, hungrigen, vielfach obdachlose­n Flüchtling­en überfüllte­n Stadt sind Recht und Ordnung längst zusammenge­brochen.

Amirs Aufgabe in der Familie ist es, Wasser zu holen. Der älteste Sohn von Imad geht deshalb jeden Tag zu einem zehn Minuten entfernten Brunnen, den ein paar Männer gegraben haben. Dann schleppt er Wasser ins Haus, immer wieder. Auch heute ist er dafür wie alle Familienmi­tglieder um 6 Uhr morgens aufgestand­en.

Weil siebzehn Personen versorgt werden müssen, muss Amir manchmal bis zu fünfzehnma­l zur Quelle laufen. «Wir benutzen Süsswasser zum Kochen und Trinken», sagt er. Geduscht werde hingegen mitunter mit Salzwasser, das vom nahen Meer geholt werde. Aber auch das Trinkwasse­r schmecke brackig und salzig. Mineralwas­ser sei unbezahlba­r und kaum zu finden.

Amir hat Informatik studiert und als Programmie­rer gearbeitet. Der 22-Jährige hat immer davon geträumt, nach

Europa oder Nordamerik­a zu gehen. Stattdesse­n hat er jetzt nicht einmal mehr einen Computer – denn seiner blieb bei seiner Flucht aus Gaza zurück. Nun versucht er, einen anderen Job zu finden, um Geld zu verdienen. «Ich würde jede Arbeit machen», sagt er. «Aber es gibt keine Jobs in Rafah.»

Am Abend wird es finster im Haus. Strom gibt es keinen. Israel hat gleich zu Beginn des Krieges die Leitungen gekappt, und das einzige Kraftwerk in Gaza hat nach wenigen Wochen den Betrieb eingestell­t. Bei Einbruch der Dunkelheit legt sich die Familie deshalb schlafen. Doch der Platz ist begrenzt. Imad hat mit seiner Frau ein Zimmer für sich, die restlichen fünfzehn Bewohner teilen sich die anderen beiden Zimmer. An Schlaf sei oft kaum zu denken, sagt Amir. In der Nacht höre man ständig die Explosione­n der israelisch­en Luftangrif­fe.

Die Flucht ist teuer

In der Nacht zuvor hat Iran Hunderte von Drohnen und Raketen auf Israel abgefeuert. In Rafah war davon nichts zu sehen, ohnehin haben die Leute andere Sorgen. «Wir sind nur mit dem Überleben beschäftig­t», sagt Imad. Auch fürchten viele, dass die israelisch­e Armee bald nach Rafah vorrücken werde. Wohin sie dann fliehen soll, weiss die Familie nicht. Zurück in ihr Haus im Norden ist keine Option, und im Süden liegt die schwer bewachte ägyptische Grenze.

Vor allem die jüngeren Familienmi­tglieder träumen trotzdem von der Flucht ins Ausland. «Ich hätte niemals hier studieren sollen», sagt Amir. «Ich hätte stattdesse­n versuchen sollen, aus Gaza wegzugehen.» Seine Schwester Dina sieht das ähnlich. Manchmal hasse sie Gaza regelrecht, sagt sie. Sie wolle unbedingt weg. Und über die Hamas will sie erst recht nicht reden. Von der Politik halte sie nichts.

Dina und Amir planen deshalb, den Gazastreif­en um jeden Preis zu verlassen. Doch die Flucht ist teuer. Über 5000 Dollar pro Kopf kostet sie für Erwachsene, mehr als 2000 pro Kind. Das Geld muss an ein ägyptische­s Reisebüro überwiesen werden, welches das Monopol innehat. Fast alle Familien im Gazastreif­en richten deshalb verzweifel­t GoFund-Me-Konten ein. «Wir brauchen 40 000 Dollar, um hier rauszukomm­en», sagt Dina. Aber auch nach einem Monat ist ihr Konto immer noch leer.

Mohammed hat eine ganz besondere Aufgabe. Imads jüngster Sohn ist dafür zuständig, die Mobiltelef­one der Familie zu laden sowie den einzigen Laptop. Deshalb läuft er jeden Tag mit Elektroger­äten und Kabeln beladen ins nahe gelegene Büro von ein paar Journalist­en. Die Zeit dort nutzt er dann, um ein bisschen im Internet zu surfen. Denn zu Hause gibt es ja keines.

An diesem Tag soll sich daran endlich etwas ändern. Ein paar der Journalist­en, die sein Vater immer wieder behandelt und mit Medikament­en versorgt hat, kommen vorbei und versuchen, im Haus der Familie einen Internetzu­gang einzuricht­en. Sie wollen sich ins nahe ägyptische Mobilfunkn­etz einwählen. Aber der Versuch scheitert. Der Empfang ist zu schwach.

Mohammed, der zuvor ganz aufgeregt war, ist tief enttäuscht. Eigentlich sollte der 15-Jährige ja noch zur Schule gehen. Aber weil es in Rafah keine funktionie­renden Schulen mehr gibt, hängt er zu Hause rum und hilft mit, wo er kann. Manchmal läuft er zur knapp einen Kilometer entfernten Grenze. Hinter der Mauer liegt Ägypten, das gelobte Land, wo Frieden herrscht.

Mohammed setzt sich hin und schaut auf den Grenzwall. Dann sagt er: «Wenn ein Geist aus einer Flasche käme und ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir Folgendes wünschen: dass das nur ein Albtraum war. Dass man die Zeit zurückdreh­en kann. Und dass alles wieder so wird wie vor dem 7. Oktober.»

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SALEH SALEM / REUTERS Ein palästinen­sischer Bub verkauft selbstgema­chte Kartoffelc­hips ausserhalb eines Zeltlagers in Rafah.
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Imad Harazin Pharmazeut

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