Putins Einflüsterer
War Iwan Iljin ein Faschist? In Russland haben sich hitzige Debatten um den Philosophen entsponnen
Dass Iwan Iljin für den patriotischen Diskurs in Russland eine wichtige Rolle spielt, ist unbestritten. Putin erwähnte ihn prominent in seinen föderalen Reden in den Jahren 2005, 2006 und 2014 und in den Sitzungen des Staatsrates 2007 und 2021. Darüber hinaus war Iljin ein Stichwortgeber für die Annexion der vier ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischja und Cherson im September 2022.
Damals schloss Putin seine Rede vor der Festgemeinde im Kreml mit einem Iljin-Zitat: «Wenn ich Russland für meine Heimat halte, dann heisst das, dass ich auf Russisch wahrnehme und denke, auf Russisch singe und spreche; dass ich an die geistigen Kräfte des russischen Volks glaube und sein historisches Schicksal mit meinem Instinkt und meinem Willen annehme.»
Nicht eindeutig zuzuordnen
Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob Iwan Iljin ein Faschist sei. Für die Befürworter der These, dass Putins Regime faschistisch sei, ist die Angelegenheit geklärt. Der amerikanische Osteuropahistoriker Timothy Snyder etwa bezeichnet Putins Regime als «schizofaschistisch». Er verweist darauf, dass Putin der Ukraine Faschismus vorwerfe, aber gleichzeitig selbst ein Faschist sei.
Snyder veröffentlichte 2018 in der «New York Review of Books» einen Artikel mit dem Titel «Iwan Iljin, Putins Philosoph des russischen Faschismus». Snyder stützt sich auf Iljins «Briefe über den Faschismus» aus den Jahren 1925 und 1926, die er nach einer Italienreise verfasst hatte. In der Tat finden sich hier anerkennende Worte über den italienischen Faschismus, wohlgemerkt zu einer Zeit, als der Mord der Schwarzhemden am Sozialisten Giacomo Matteotti eine bekannte Tatsache war.
Allerdings verschweigt Snyder in seiner Analyse, dass Iljin seine «Briefe» in der Zeitschrift des liberalen Publizisten Peter Struve publizierte. Ausserdem zitiert Snyder aus Iljins Artikel «Über den russischen Faschismus» aus dem Jahr 1928 folgende Definition: «Der Faschismus ist ein rettender Exzess einer patriotischen Willkür.» Jedoch unterschlägt Snyder Iljins nächsten Satz: «Darin liegt sowohl seine Begründung als auch seine Gefährlichkeit.»
Iljin war gewiss kein Kritiker des Faschismus. Er träumte von einem russischen «Führer» und glaubte ihn sogar in der Person des hünenhaften Grossfürsten Nikolai Nikolajewitsch, eines Cousins des letzten Zaren, gefunden zu haben. Iljin begrüsste ursprünglich sogar die Machtergreifung der Nazis in Deutschland. Er war – wie viele andere Russen – vor den Bolschewiken nach Berlin geflohen.
Im Mai 1933 schrieb er: «Was hat Hitler getan? Er hat den Prozess der Bolschewisierung in Deutschland aufgehalten und damit ganz Europa den grössten Dienst erwiesen. Während Mussolini Italien führt und Hitler Deutschland führt, erhält die europäische Kultur einen Aufschub.» Allerdings musste Iljin bald vor den gewaltbereiten Nazis in die Schweiz fliehen. Der Komponist Sergei Rachmaninow half ihm dabei.
Ideologisches Verwirrspiel
Auch in Putins Russland haben sich mittlerweile hitzige Debatten um Iljin entsponnen. Bereits 2014 kritisierte die oppositionelle «Nowaja Gaseta» Iljin als «Philosophen des Weihrauchs und der Peitsche». Aber auch auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums forderte die stramme Patriotin Weronika Krascheninnikowa im April 2022, Putins Russland müsse sich vom «klerikal-faschistischen» Iljin lossagen.
Im Geist des neuen Nationalismus hat die einst renommierte Moskauer Geisteswissenschaftliche Staatsuniversität im vergangenen Sommer ein Iljin-Zentrum gegründet, das den Studierenden «eine auf die russische Zivilisationsidentität gegründete Weltanschauung» vermitteln soll. Nun ist bekanntgeworden, dass der rechtsradikale Philosoph Alexander Dugin dieses Zentrum leiten soll.
Protest gegen diese Personalie erhebt sich ausgerechnet aus der kommunistischen Studierendenorganisation. Unterstützung erhält sie aus der kommunistischen Fraktion in der Duma, die von den Kreml-Polittechnologen in einem schönen Oxymoron der «systemischen Opposition» zugerechnet wird. Pikanterweise gehört aber der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, zu den Iljin-Fans.
Das ideologische Verwirrspiel führt auf die interessante Grundsatzfrage, ob Putins Regime «links» oder «rechts» stehe. Die Antwort lautet: Die russische Herrschaft funktioniert wie Dugins Philosophie. Sie bedient sich eklektisch jener Elemente, die ihr nützen, und kümmert sich weder um den Herkunftskontext noch um die eigene ideologische Kohärenz.