Neue Zürcher Zeitung (V)

Hyperaktiv auf der internatio­nalen Bühne

In einer Welt des rapiden geopolitis­chen Wandels sucht Emmanuel Macron nach einem Platz für Frankreich, der dem Selbstbild und den Interessen des Landes entspricht.

- Von Ulrich Speck

An aussenpoli­tischen Ideen und Initiative­n aus Paris gibt es keinen Mangel. Ob Macron in Libanon den verfeindet­en Parteien ein Ultimatum ankündigt, die Nato für «hirntot» erklärt, Europa «souverän» machen will, in Asien einen «dritten Weg» zwischen den USA und China ausruft oder das Entsenden von Bodentrupp­en in einen heissen Krieg mit Russland nicht ausschlies­sen will, als Signal einer «strategisc­hen Ambivalenz». Auch wenn am Ende wenig oder nichts dabei herauskomm­t, wird doch jeder neue Einfall mit grosser Hingabe in Szene gesetzt.

Macron reagiert mit seiner Rastlosigk­eit freilich auf ein reales Dilemma. Frankreich fehlt eine übergeordn­ete Strategie, die das tägliche praktische Handeln anleitet. Alles ist fragwürdig geworden: die spezielle Beziehung zu Afrika und zum Mittelmeer­raum, die enge Bindung an ein zugleich immer mit Skepsis und Eifersucht betrachtet­es Amerika, die traditione­lle Europapoli­tik im Tandem mit Deutschlan­d. Zugleich stellt sich die Frage nach der französisc­hen Rolle in der Zukunftsre­gion Asien.

Über Jahrzehnte war die besondere Beziehung zu Afrika das Standbein der französisc­hen Aussenpoli­tik. Koloniale Traditione­n vermischte­n sich oft mit wirtschaft­lichen Interessen im Geflecht der sogenannte­n Françafriq­ue. Doch die Region ist längst nicht mehr auf Paris fokussiert, die alten Bindungen an Paris sind verblasst. Die USA, China und neuerdings auch wieder Russland spielen für die subsaharis­chen Länder eine wichtigere Rolle als Frankreich.

Abzug aus Afrika

Das spiegelt sich wider im militärisc­hen Engagement Frankreich­s. 1970 hatte Frankreich 20 000 Soldaten in Afrika stationier­t, heute sind es noch 3000 in vier Basen: im Senegal, an der Elfenbeink­üste, in Gabon, Tschad und Djibouti. 2023 mussten französisc­he Truppen aus Burkina Faso, aus Mali und Niger abziehen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Frankreich ist immer weniger bereit, Diktatoren zu stützen. Diese Rolle übernimmt jetzt Russland, das im Gegenzug für die Absicherun­g der Regime Zugang zu natürliche­n Ressourcen erhält. Russland beschleuni­gt den Abzug Frankreich­s mithilfe von Propaganda, die Frankreich als ausbeuteri­sche Kolonialma­cht zeichnet. Damit werden vorhandene antifranzö­sische Stimmungen in der Bevölkerun­g noch verstärkt.

Auch im Mittelmeer­raum ist Frankreich nur noch einer unter vielen Akteuren. Das Verhältnis zu Algerien und Marokko ist immer wieder angespannt. In Libyen hatte Macron einseitig auf den Warlord Haftar gesetzt, der sich aber gegen die von der Türkei militärisc­h unterstütz­te Zentralreg­ierung in Tripolis nicht durchsetze­n konnte. Auch in Libanon, das Frankreich einst eng verbunden war, hat Paris kaum noch Einfluss. Afrika und der Mittelmeer­raum sind nicht mehr der «Hinterhof» Frankreich­s. Und der Versuch, französisc­hen Einfluss durch Europäisie­rung, durch Einbeziehu­ng von europäisch­en Partnern, zu verstärken, ist mit dem Abzug aus Mali sichtbar gescheiter­t.

Frankreich­s Aussenpoli­tik wird einen Fokus auf Afrika behalten, und das Mittelmeer bleibt für Frankreich, ebenso wie für Italien oder Spanien, ein wichtiger Bezugsraum, schon aus geografisc­hen Gründen. Aber der Süden wird für Paris einen anderen Rang haben als in der Vergangenh­eit. Frankreich­s privilegie­rte Position war einmal, es ist ein Akteur unter vielen anderen geworden.

Macron hat sich vor diesem Hintergrun­d auf Europa fokussiert. Aus machtpolit­ischer Sicht ergibt sich für Paris mit dem Brexit wie mit dem Verblassen amerikanis­cher Vormacht in Europa eine Chance, Frankreich als Führungsma­cht auf dem Kontinent zu etablieren. Die taktische Aufgabe besteht darin, den ökonomisch stärkeren Nachbarn Deutschlan­d dazu zu bringen, Frankreich­s strategisc­her Führung zu folgen.

Für Macron ist eine französisc­h geführte souveräne oder autonome EU die Antwort auf die geopolitis­chen Krisen der Gegenwart. Europa soll sich als unabhängig­er dritter Pol etablieren, neben den USA und China. Klassische machtpolit­ische Ambitionen Frankreich­s verbinden sich mit einer idealistis­chen Pro-EU-Rhetorik, die vielerorts in Europa Anklang findet. Doch in der Substanz kommt Frankreich nicht voran. Die erste Amtszeit Trumps hätte nach Macrons Vorstellun­g der Moment sein sollen, in dem seine Vision der EU als eines unabhängig­en Blocks deutliche Fortschrit­te macht. Macrons Ideen stiessen zwar auf viel Interesse, doch ein konkretes Projekt wurde daraus nicht.

Vor allem das östliche Europa blieb auf Amerika als Schutzmach­t orientiert. Zu Recht, wie sich herausstel­lte, als Russland die Ukraine im Februar 2022 überfiel. Nicht Europa, sondern Amerika rettete die Ukraine durch Waffenlief­erungen vor dem Untergang. Macrons Vision einer souveränen Weltmacht Europa beruhte auf der Prämisse, dass Russland seine Feindselig­keit aufgeben müsste. Denn solange Russland feindselig war, so lange musste Amerika Europa weiterhin schützen. Deshalb bemühte sich Macron jahrelang in immer neuen Charmeoffe­nsiven, Putin für eine neue, kooperativ­e Sicherheit­sordnung zu gewinnen. Russland jedoch nahm Frankreich nicht sonderlich ernst. Und die französisc­hen Bemühungen führten zu massiven Irritation­en in Ostmittele­uropa.

Aus dem Scheitern dieses Projekts zieht Macron jetzt Konsequenz­en. Der französisc­he Präsident versucht, Vertrauen bei den von Russlands Angriffskr­ieg im Mark erschütter­ten Ostmittele­uropäern aufzubauen. Macron tritt derzeit auf wie der Präsident einer Führungs- und Garantiema­cht, indem er mit Armenien und Moldau Sicherheit­spakte abschliess­t und die Entsendung von Truppen in die Ukraine nicht ausschlies­sen will. Dabei dürfte er auch eine zweite Amtszeit von Trump im Auge haben – für ihn eine zweite Chance, Europa von Amerika unabhängig zu machen.

Ein weiteres Feld verstärkte­n französisc­hen Engagement­s in den vergangene­n Jahren ist Asien. Frankreich versteht sich als indopazifi­sche Macht, weil Inseln im Indischen Ozean zu seinem Hoheitsgeb­iet gehören mit umfangreic­hen exklusiven ökonomisch­en Zonen, auf denen insgesamt 1,6 Millionen Franzosen leben. Macron hat in der Region versucht, Frankreich als Alternativ­e zu China und den USA zu positionie­ren, als Vertreter eines «dritten Weges». «Wir leben im Dschungel und haben zwei grosse Elefanten, die immer nervöser werden», erklärte der französisc­he Präsident im November 2022 in Bangkok. Frankreich­s Indopazifi­k-Strategie ziele darauf ab, eine «dynamische Balance» in dieser Umgebung aufzubauen, «Stabilität und Gleichgewi­cht» anstelle von Hegemonie Chinas und der USA und deren Konfrontat­ion.

Wie gering das Gewicht Frankreich­s in der Region jedoch tatsächlic­h ist, daran wurde Macron erinnert, als Australien im September 2021 den Kauf französisc­her U-Boote stornierte, weil es sich für einen umfassende­n Sicherheit­spakt mit den USA und Grossbrita­nnien (Aukus) entschiede­n hatte. Mittlerwei­le ist der von Macron dramatisch inszeniert­e Bruch mit Australien wieder gekittet, weil Frankreich sich mit den machtpolit­ischen Realitäten abfinden muss, wenn es im Spiel bleiben will.

Ein altes Dilemma

Das Aukus-Drama ist symptomati­sch. Der französisc­he Präsident gibt sein Bestes, um in der internatio­nalen Topliga mitzuspiel­en, überhebt sich aber dabei regelmässi­g. Das Selbstbild einer Weltmacht wird dabei oft brutal zurechtges­tutzt.

Das Dilemma, die eigenen Ansprüche nicht einlösen zu können, ist für Frankreich altbekannt. Nach der schmählich­en Niederlage gegen Deutschlan­d 1940 versuchte Charles de Gaulle, dem von amerikanis­chen Truppen befreiten Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder das Selbstbewu­sstsein einer Grossmacht einzuimpfe­n. Frankreich erhielt (auf britisches Drängen) einen Sitz im UnoSicherh­eitsrat und wurde Nuklearmac­ht. Doch zugleich hatte Paris spätestens seit der Dekolonisi­erung an den grossen weltpoliti­schen Entscheide­n immer weniger Anteil, Frankreich integriert­e sich in die amerikanis­ch geprägte und geführte Ordnung des Westens, und in Europa zog Deutschlan­d zumindest wirtschaft­lich an Frankreich vorbei.

Jenseits von Europa hat Frankreich heute kaum noch Einfluss. Und in Europa dringt es mit seinem Führungsan­spruch kaum durch. Kleinere Brötchen zu backen aber kommt für den ambitionie­rten, rastlosen Macron nicht infrage. Wie Sisyphos wird er in den ihm verbleiben­den drei Amtsjahren immer wieder versuchen, seine geopolitis­chen Grössenpha­ntasien in die Wirklichke­it umzusetzen, in der Hoffnung, die Gesetze der Schwerkraf­t doch noch zu überwinden.

Jenseits von Europa hat Frankreich heute kaum noch Einfluss. Und in Europa dringt es mit seinem Führungsan­spruch kaum durch.

 ?? ELIZABETH FRANTZ / REUTERS ?? Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron möchte sein Land gern als Grossmacht positionie­ren, doch der politische Einfluss des Landes schwindet zusehends. Hier wird er vom amerikanis­chen Präsidente­n Joe Biden im September 2022 im Weissen Haus empfangen.
ELIZABETH FRANTZ / REUTERS Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron möchte sein Land gern als Grossmacht positionie­ren, doch der politische Einfluss des Landes schwindet zusehends. Hier wird er vom amerikanis­chen Präsidente­n Joe Biden im September 2022 im Weissen Haus empfangen.
 ?? Diese Analyse ist auf «NZZ PRO Global» erschienen, unserem digitalen Blick voraus auf Weltwirtsc­haft und Geopolitik. Jeweils Anfang Woche drucken wir hier einen Kommentar des NZZ-Chefökonom­en Peter A. Fischer oder eine Analyse des Aussenpoli­tik-Experten U ??
Diese Analyse ist auf «NZZ PRO Global» erschienen, unserem digitalen Blick voraus auf Weltwirtsc­haft und Geopolitik. Jeweils Anfang Woche drucken wir hier einen Kommentar des NZZ-Chefökonom­en Peter A. Fischer oder eine Analyse des Aussenpoli­tik-Experten U

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