Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)

Apoll und Pan am Song-contest

- Zugabe Manfred Papst

Dürrenmatt wurde siebzig, Frisch achtzig, Adolf Muschg ist gerade neunzig geworden. Letzten Sonntag wurde dieser im Literaturh­aus Zürich gefeiert. Dabei erzählte er aufgeräumt, wie er den Vorabend verbracht hatte: vor dem Fernseher, mit dem Eurovision Song Contest. Ich stutzte: Ein Poeta doctus interessie­rt sich für Schlagerpa­raden und Nemo national?

Ich hätte mich nicht wundern sollen: Schliessli­ch erzählt Muschgs Hauptwerk «Der Rote Ritter» die Geschichte Parzivals neu, vor der Folie des Versromans von Wolfram von Eschenbach, und bei diesem denken wir natürlich an den Sängerkrie­g auf der Wartburg, einen Song-contest avant la lettre. Der Brunnen der Vergangenh­eit ist aber noch tiefer: Schon die griechisch­e Mythologie kennt das Motiv des musikalisc­hen Wettstreit­s; der Dichter Ovid erzählt die Geschichte in seinen «Metamorpho­sen» auf ganz unnachahml­iche Weise. Er will damit die Torheit des Königs Midas illustrier­en, dem zuvor schon der Wunsch, alles, was er berühre, möge zu Gold werden, kein Glück gebracht hat.

Der Hirtengott Pan macht sich mit seiner Flöte vor den Nymphen wichtig und behauptet, schöner zu spielen als Apoll auf seiner Leier. Ein Wettstreit soll den Fall klären; zum Schiedsric­hter wird der Berggott Tmolos bestimmt. Pan bläst die Syrinx, Apoll zupft die kithara, und Tmolos erklärt Apoll zum Sieger. Das passt Midas aber nicht. Er fand Pan besser und begehrt auf. Das lässt Apoll sich nicht bieten; kraft seiner göttlichen Fähigkeite­n hext er Midas Eselsohren an.

Midas verbirgt seine langen Ohren fortan unter einer roten Mütze. Doch sein Barbier kann die Klappe nicht halten und flüstert das Geheimnis in ein Erdloch, bevor er es wieder verschlies­st. Aus ihm aber spriessen Binsen, und so oft der Wind weht, tragen sie die Kunde, dass Midas Eselsohren hat, zu den Menschen. Bald wissen es wirklich alle: So ist die Binsenweis­heit in unseren Wortschatz gekommen.

Mir gefällt die Geschichte aus mehreren Gründen. Zum einen geben die Starken in ihr eine schwache Figur ab: Tmolos als eigenmächt­iger Juror, der sein Geschmacks­urteil nicht begründet, Apoll, der sich (blondgeloc­kt und in Purpur gekleidet) in Künstler pose wirft und keinen Widerspruc­h erträgt. Zum andern geht es schon beiovid um einen Streit zwischen elaboriert­er und simpler Musik, und da muss natürlich Apoll als urbaner Gott der Künste den Hirten Pan in die Schranken weisen. E gegenuhalt,d am als schon.

Den antiken Stoff aufgegriff­en hat übrigens auch Christoph Martin Wieland in seinem köstlichen Singspiel «Das Urteil des Midas». Es wurde 1765 publiziert – anonym, um die strenge Zürcher Zensur zu umgehen. Davon ein andermal.

Adolf Muschg, ein Poeta doctus, interessie­rt sich für Schlager und Nemo national?

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