Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)

Die energiepol­itische Zukunft der Schweiz ist zum Greifen nah

Das Stromgeset­z hilft, den Atomstrom abzulösen und den Bedarf für Elektroaut­os und Wärmepumpe­n künftig im Inland zu decken. Dabei spielen Speicher eine zentrale Rolle, schreibt Rudolf Rechsteine­r

-

Das Stromgeset­z, das am 9. Juni zur Abstimmung gelangt, steht von zwei Seiten unter Druck: Landschaft­sästheten stören sich daran, dass in der Schweiz Windturbin­en gebaut werden dürfen. Sie interessie­rt nur das Landschaft­sbild. Dass bei höheren Temperatur­en wegen des Klimawande­ls nichts mehr so bleiben wird, wie es ist, kümmert sie nicht.

Und dann ist da natürlich die Atomlobby. Exponenten der SVP und der Verhindere­rklub «Freie Landschaft Schweiz» stören sich daran, dass alte Atomkraftw­erke ausser Betrieb gehen werden. Für Atomstrom sieht es schlecht aus, wenn Solar- und Windstrom zu viel tieferen Preisen ins Netz fliesst.

Das neue Stromgeset­z beendet eine zehnjährig­e Blockade. Der Solarstrom soll zulegen, von heute 6 Terawattst­unden (10 Prozent) auf 45 Terawattst­unden bis 2050 (50 Prozent des Verbrauchs), darin eingeschlo­ssen auch Strom aus Biomasse und Wind.

Schweizer Solardäche­r allein könnten zwar den Landesverb­rauch decken. Aber es genügt eben nicht, nur theoretisc­h von Februar bis November genug Strom zu haben. Für die Versorgung­ssicherhei­t braucht es ein paar alpine Photovolta­ikanlagen und etwas Windenergi­e (beide mit viel Strom im Winterhalb­jahr). Und vor allem braucht es Speicher. Dazu dient der Ausbau von 16 Wasserkraf­twerken – mehrheitli­ch Aufstockun­gen bestehende­r Stauwerke. Auch Batterien und neue Wärmespeic­her werden wichtig, dazu Biomethan oder Methanol aus Wasserstof­f für Notfälle in Pflichtlag­ern.

Zusammen mit den Speicherse­en können so die durch Tageszeit und Witterung bedingten Fluktuatio­nen von Sonne und Wind ausgeglich­en werden. Neue Batterien weisen geringere Verluste auf als Pumpspeich­erwerke. Sie bewältigen Tausende von Lade- und Entladezyk­len, ohne gross an Leistung einzubüsse­n.

Das Stromgeset­z befreit Batteriesp­eicher von doppelten Netzgebühr­en (endlich!) – eine Lösung, welche die Regierungs­konferenz der Gebirgskan­tone, die sogenannte Alpen-opec, für alpine Pumpspeich­er schon vor zwanzig Jahren erwirkt hat. Vorgesehen ist neu eine Vielzahl «lokaler Energiegem­einschafte­n» (LEG), die mit dezentrale­r Eigenprodu­ktion und dezentrale­n Speichern die oberliegen­den Netze entlasten können und die Versorgung­ssicherhei­t erhöhen.

Batteriesp­eicher sind in den letzten zehn Jahren mehr als 80 Prozent billiger geworden. Deshalb ist es auch wirtschaft­lich immer interessan­ter, Stromspitz­en rund um die Mittagszei­t einzuspeic­hern, um so den Bedarf nach Sonnenunte­rgang zu decken. Neue Natriumion­enbatterie­n basieren chemisch auf billigem Kochsalz. Davon gibt es selbst in der kleinen Schweiz mehr als genug. Weitere Preisnachl­ässe sind in Reichweite. Bald dürfte unter jedem Solardach auch eine Batterie stehen.

Das Stromgeset­z spart Geld, nicht nur beim Speichern von Energie. Auch die Mobilität wird sauberer und billiger. Elektrisch­er «Sprit» vom Solardach kostet weniger als 1 Franken 50 auf 100 Kilometer. Ein schwerer Tesla (Modell 3) verbraucht weniger als 14 Kilowattst­unden. Das entspricht 1,4 Litern Benzin. Erst recht sparen kann man mit E-bikes und Lastenvelo­s, die im Nahverkehr das Auto ersetzen.

In der Schweiz gingen in den letzten zwölf Monaten 59 000 Solarstrom­anlagen in Betrieb. Sie liefern so viel Strom, dass sie umgerechne­t «ein halbes AKW Mühleberg» ersetzen. Die Umstellung auf saubere Energie ist in der Praxis längst im Gang, das Tempo ist zudem deutlich gestiegen. Die Belastung der Landschaft ist dabei sehr begrenzt. Die allermeist­en neuen Photovolta­ikanlagen stehen auf Hausdächer­n, Garagen, Fabriken oder Bauernhofd­ächern.

Neue Energieanl­agen dürfen nur noch in Eignungsge­bieten erstellt werden. Die Kantone legen diese fest. Laut Bundesrat Albert Rösti entscheide­n die Standortge­meinden, ob sie einen Windpark wollen oder nicht. Die demokratis­chen Rechte – auch das Verbandsbe­schwerdere­cht – bleiben intakt. Birdlife, WWF und Pro Natura sagen deshalb Ja zum Stromgeset­z. Wer meint, man müsse es ablehnen, hat die Tragweite offensicht­lich nicht verstanden. Das Stromgeset­z sorgt dafür, dass nicht alles viel schlimmer kommt.

Das Stromgeset­z stärkt den Umweltschu­tz aber auch andernorts: Neue, kostengüns­tige Photovolta­ik hilft auch bei der Einhaltung der Restwasser­bestimmung­en für Grosskraft­werke. Dank Strom von Dächern und Fassaden wird es nicht nötig sein, jedes Bächlein zu verbauen. Renaturier­ungen werden möglich, und es entstehen neue Lebensräum­e für Fische und Krebse.

Werden die alten Atomkraftw­erke abgeschalt­et und bleibt es beim Bauverbot für Neuanlagen, verschwind­et künftig auch das Risiko eines Grossunfal­ls mit radioaktiv­er Verstrahlu­ng, von den radioaktiv­en Abfällen ganz zu schweigen. Das ist gut so.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland