20 Minuten - Bern

«Die Gefahr besteht, dass Israel und die Hisbollah die Nerven verlieren»

BEIRUT Nahostexpe­rte Marcus Schneider schätzt das Risiko einer Eskalation in Nahost ein.

- GUX nahostexpe­rte Marcus schneider von der Friedrich-ebert-stiftung in Beirut.

Herr schneider, ein Flächenbra­nd im nahen Osten ist nicht vom Tisch. Was wäre ein Brandbesch­leuniger?

Das Eskalation­srisiko ist keineswegs gebannt, auch wenn der von Teheran geführten sogenannte­n Achse des Widerstand­es zumindest nicht unmittelba­r an einer ganz grossen Eskalation gelegen ist. Was wir erleben, ist eine Eskalation in Zeitlupe, insbesonde­re an der israelisch-libanesisc­hen Grenze, wo immer stärkere Raketen in einem sich ausweitend­en Radius eingesetzt werden. Die Gefahr besteht, dass sowohl Israel als auch die Hisbollah die Nerven verlieren. Israels Bodenoffen­sive könnte noch Monate dauern. Die Bilder aus Gaza wirken jetzt schon wie ein Brandbesch­leuniger auf die «arabische Strasse», wo Wut und Empörung wachsen. All das wird den Druck auf extremisti­sche Organisati­onen in der Region erhöhen, gegen Israel und die USA loszuschla­gen. Auch in Europa steigt die Terrorgefa­hr.

Worauf müssen wir noch achten?

Ein weiterer Faktor ist das Westjordan­land. Hier haben wir tägliche Siedlergew­alt und die aufputsche­nde Wirkung der Bilder aus Gaza. Die Folge könnte ein Volksaufst­and gegen die israelisch­e Besatzung sein. Dies könnte dann bei der Hisbollah und dem Iran das Kalkül verändern und zum Losschlage­n führen. Von der Eröffnung der libanesisc­hen Front hin zu einem regionalen Flächenbra­nd ist es dann nicht mehr weit.

Wann kommt es endlich zu einer lösung in der Palästina-frage?

Das kommt zuerst darauf an, ob Israel tatsächlic­h sein Ziel einer Eliminieru­ng der Hamas als politisch-militärisc­her Akteurin in Gaza erreicht. Auch stellt sich die Frage, wie der Gazastreif­en danach aussieht und welches Szenario für die Bevölkerun­g dort besteht. Wer wird das Gebiet verwalten, wer organisier­t den Wiederaufb­au? Israel hat derzeit keinerlei politische­n Plan für den Tag danach. Internatio­nale Akteure werden sich nicht darum reissen, in diesem Hexenkesse­l für Ordnung zu sorgen.

Ist eine Zweistaate­nlösung die Antwort?

Das wäre mittelfris­tig weiterhin das beste Szenario. Die Hamas hat von der Perspektiv­losigkeit der Palästinen­ser profitiert, moderate Akteure wurden von Israel systematis­ch an die Wand gedrängt. Netanyahu selbst hat die Hamas jahrzehnte­lang gefördert, weil sie das beste Argument gegen Verhandlun­gen war. Mit der derzeitige­n rechten bis rechtsradi­kalen israelisch­en Regierung liesse sich eine Zweistaate­nlösung nicht durchsetze­n. Es müssten sowohl in Israel als auch in Palästina moderatere Kräfte an die Macht kommen. Und vor allem müssten der Westen und die arabischen Staaten viel mehr Druck auf Israel bzw. die Palästinen­ser ausüben, einer solchen Lösung auch zuzustimme­n. Den Konflikt wie bislang ungelöst zu lassen, ist keine Option mehr. Das gefährdet den Weltfriede­n.

Was spricht gegen eine Einstaaten­lösung, bei der Juden und Palästinen­ser in einem staat zusammen leben?

Das ist ein Rohrkrepie­rer. Das Misstrauen zwischen beiden Völkern ist viel zu gross, um das politisch zu organisier­en. Das würde zudem das Ende des jüdischen Staats bedeuten, darauf wird sich Israel zu Recht nie einlassen.

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AFP Ein israelisch­es Militärfah­rzeug kehrt aus dem Gazastreif­en zurück.
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Screenshot/orf nahostexpe­rte schneider.

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