Überfahrt ins Ungewisse
Im Oktober steigt die Zahl der Bootsflüchtlinge – Ruhige Gewässer, politische Krisen und Armut treiben sie nach Spanien
Cartagena/Madrid – sg/sk. Wohin mit ihnen? Polizei und Behörden wirken überfordert. Hunderte von Immigranten tauchten am Wochenende in Murcia, Cartagena und Lorca auf, offenbar sich selbst überlassen. Binnen Tagen kamen rund 500 Bootsflüchtlinge an der Küste von Cartagena an. Das provisorische Aufnahmezentrum für Ausländer am Hafen bietet aber nur 440 Menschen Platz. Migranten dürfen nur maximal 72 Stunden im Zentrum bleiben. Dort werden sie identifiziert, können Asyl beantragen oder es werden Ausweisungsverfahren eingeleitet.
Derzeit wagen täglich hunderte Menschen aus Nordafrika die gefährliche Überfahrt und steuern über die hohe See in dafür kaum tauglichen Booten europäisches Festland an. Migrationsrouten gibt es verschiedene, seit September und Oktober nehmen viele Flüchtlingsboote Kurs auf die Kanaren. Kritisch ist die Situation auf der kleinen Insel El Hierro, an manchen Tagen kommen dort fast 1.000 Menschen an.
Ausgerechnet El Hierro, eine kleine Insel mit kaum 12.000 Bewohnern ganz im Westen der Inselgruppe, die wohl schwer anzusteuern ist auf der ohnehin gefährlichen Überfahrt über den Atlantik. Die meisten dieser Boote nehmen aus dem Senegal Kurs auf die kleine Insel, etwa seit Juni und seit den sozialen Unruhen in dem afrikanischen Land. Wobei nun um diese Zeit der Atlantik ruhiger und die See weniger stürmisch ist. Der prägnante Tendenzwandel hat aber eigentlich erst im September eingesetzt. Allein in der ersten Oktoberwoche erreichten 5.000 Migranten El Hierro.
Bisher steuerten Nordafrikaner Lanzarote, Gran Canaria und Teneriffa an, den Hafen von El Hierro erreichten meist vom Kurs abgekommene Boote oder verunglückte Immigranten, die aus gekenterten Booten oder in Seenot gerettet wurden. Westlich der nur 270 Quadratkilometer großen Insel lauert der offene Atlantik, nahe der Insel trugen sich viele Tragödien zu. Jetzt aber steuern Migranten gezielt das abgelegene Eiland an, just wegen seiner Lage. Die Boote auf diesem Kurs fahren weiter entfernt von der afrikanischen Küste
und können schwieriger von den Küstenwachen vor Mauretanien, der Westsahara und Marokko abgefangen werden. Die Zusammenarbeit zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung hat sich 2020 intensiviert, weshalb bis vor kurzem deutlich weniger Flüchtlingsboote die Kanaren ansteuerten oder von der nordafrikanischen Küste ablegten, um über die Meerenge Spanien zu erreichen.
Einmal angekommen, übergibt die Nationalpolizei die Neuankömmlinge den Hilfswerken, die sich um Wohnung und Versorgung kümmern so gut sie können. Doch auch die NGOs stoßen an ihre Grenzen. Die Unterbringungsmöglichkeiten etwa in Murcia gelten als ausgeschöpft. Die Organisationen können sich nur noch der am meisten gefährdeten Fälle annehmen, wie unbegleitete Minderjährige und Familien mit Babys.
Während das Innenministerium bis August noch 8.500 Bootsflüchtlinge und damit elf Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum auf den Kanaren verzeichnete, schossen die Zahlen im September auf fast 15.000 in die Höhe und
haben seit Oktober weiter an Fahrt aufgenommen. Es sind in sehr kurzer Zeit sehr viele Migranten angekommen. Man muss inzwischen von mehr als 20.000 Menschen ausgehen, wahrscheinlich liegen die Zahlen schon über dem gesamten Vorjahresstand von 22.800 und nahe bei den 23.700, die 2020 die Kanarischen Inseln erreichten – ein Stand, der nur 2006 mit fast 31.700 übertroffen wurde.
Niemand kümmere sich um die vielen Flüchtlinge, die nicht in den Aufnahme-Einrichtungen unterkommen, teilte die Gewerkschaft der Nationalpolizei Jupol mit. Sie würden auf den Straßen „freigelassen“werden. Es fehle an Mitteln und Personal. Jupol fordert seit Jahren eine Aufstockung, besonders für die vier temporären Auffanglager Cate (Centro de atención temporal de extranjeros) in San Roque, Almería, Cartagena und Motril. Auch für ein spezifisches Protokoll für die massive Ankunft von Flüchtlingsbooten spricht sich Jupol aus. Viele dieser Menschen hätten keine Papiere, würden die Sprache nicht sprechen und kennen sich in dem ihnen fremden Land nicht aus. Ohne Hilfe würde der tägliche Kampf ums Überleben sie leicht auf den kriminellen Weg führen, so Jupol.
Die Zahlen der aktuellen Flüchtlingswelle wecken Erinnerungen an 2020, als während der
Coronavirus-Krise bis zu 2.000 Migranten auf der Hafenmole von Arguineguín in Gran Canaria campieren mussten. Ähnliche Zustände spielen sich derzeit nicht ab, keine Pandemie erschwert die Abwicklung der Aufnahme und Spanien hat mit dem Plan Canarias die Aufnahmemöglichkeiten deutlich verbessert. Polizei, Rotes Kreuz und Behörden reagieren schneller, bringen die Ankömmlinge auf verschiedenen Inseln und in bis zu 30 Einrichtungen auf dem spanischen Festland unter.
Die meisten Flüchtlinge bleiben nicht auf den Kanaren, sondern werden auf dem Festland untergebracht. Das Innenministerium hält sich darüber aber sehr bedeckt, um keine Signale zu geben, die noch mehr Flüchtlinge dazu bewegen könnten in Spanien Aufnahme zu suchen. „Die Lage ist unter Kontrolle“, versichert der zuständige Minister für Immigration, José Luis Escriva, nur. Spanien hat seit dem Ukraine-Krieg seine Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge stark ausgebaut und kann bis zu 4.500 Ankömmlinge vorübergehend in dafür vorgesehenen Einrichtungen aufnehmen. 3.700 weitere Aufnahmemöglichkeiten stehen auf den Inseln zur Verfügung.
Die Bürgermeister von Murcia, Cartagena und Lorca kritisierten, dass die nicht informiert worden seien, sondern aus den Medien und durch Hunderte von Anrufen von Bewohnern von den vielen Immigranten erfahren hätten. Niemand wisse, ob sie einen Gesundheitscheck durchlaufen hätten, ob sie von einer NGO betreut werden, wohin sie gehen, sagte Fulgencio Perona (PP), Stadtrat für Sicherheit in Murcia. Das würde sozialen Alarm auslösen. Die Immigranten würden auf den Straßen übernachten, berichtete Lorcas Bürgermeister Fulgencio Gil (PP), keiner wisse, wer sie seien. Lorca habe bereits einen Ausländeranteil von 25 Prozent und könne keine weiteren Migranten mehr aufnehmen.
Während der Regierungsdelegierte für Murcia Francisco Jiménez (PSOE) von einem humanitären Drama sprach und bekräftigte, dass den Flüchtlingen eine würdige Behandlung gewährt werde und Gesetze eingehalten werden, forderte der Sprecher der rechtsextremen Partei Vox Rubén Martínez Alpañez den Rücktritt von Jiménez. Über die Schicksale dieser Menschen gibt es die verschiedensten Geschichten und keineswegs alle sind negativ oder spiegeln die Vorbehalte wider, die von Rechtsparteien aufgegriffen werden. Mancherorts haben diese Menschen aller Art Arbeiten übernommen, für die sich niemand mehr gefunden hat und das soziale Leben vor allem in strukturschwachen Gebieten bereichert, auch auf den Kanaren selbst.
Kaum Betreuung in Auffangzentren: Es fehlt an Mitteln und Personal