Liebe Leser,
die Luft ist raus. Bei so ziemlich allen. Proteste, Ausschreitungen, politisches Hickhack und ein allgemeines Klima der Anspannung und des Überdrusses beherrschen Spanien. Die blinde Wut, die sich jede Nacht vor allem in den Straßen Barcelonas entlädt, hatte sich schon lange aufgestaut bei den jungen Leuten. Da geht es nicht nur um Pablo Hasél und das Recht auf freie Meinungsäußerung, das war nur der berühmte Funke, der alles in Brand setzte. Da geht es – ohne die Gewalt zu rechtfertigen – auch um Arbeitslosigkeit, mangelnde Zukunftsperspektiven und nicht zuletzt um ein Ausbrechen aus einem Jahr voller Einschränkungen vieler anderer Freiheiten.
Fast vergessen sind jetzt die Solidaritätsbekundungen der ersten Pandemie-Monate, der allabendliche Applaus für Ärzte und Pflegepersonal, die Regenbögen und der Hashtag #yomequedoencasa. Die Durchhalteparole von „Resistiré“ist verhallt oder wird jetzt mit ironischem Tonfall gesungen. Und die Impfkampagne, die einst die Hoffnung nährte, in absehbarer Zeit zu einem einigermaßen normalen Leben zurückkehren zu können, geht so schleppend und holprig voran, dass es nur noch mehr deprimiert. Von immer neuen, immer infektiöseren Corona-Mutationen in allen Teilen der Welt ganz zu schweigen.
Die Luft ist also raus. Und das, obwohl mit dem Abklingen der dritten Welle jetzt Lockerungen bei den Restriktionen winken und wir ein paar unserer Freiheiten zurückgewinnen. Jubelstürme darüber bleiben aus, denn inzwischen sind wir pandemieerprobt und wissen, dass diese Lockerungen wohl wieder nur von kurzer Dauer sein werden, bis die nächste Welle über uns schwappt. Genießen kann man sie nicht wirklich, diese kleine Freiheit. Spanien und irgendwie die ganze Welt bräuchten ein Erfolgserlebnis. Letztendlich wird es wohl die Impfung sein, wenn sie richtig in Gang kommt. Werfen wir etwa einen Blick in die Seniorenresidenzen, deren Bewohner dank ihrer Impfung nach langer Zeit liebe Verwandte wiedersehen konnten. Auch wir werden irgendwann dorthin kommen.