Luxemburger Wort

Die Welt in der Kugel

Magie Bergkrista­ll im Kölner Museum Schnütgen

- Von Eckart Pasche

Ein neues Jahr hat begonnen. Was mag es wohl bringen? Können wir in die Zukunft blicken? Etwa mithilfe einer Kristallku­gel? Eine fast überirdisc­h anmutende Bergkrista­ll-Schau in Köln entlässt ihre Besucher mit einem Blick in eine Kristallku­gel aus dem 21. Jahrhunder­t. Geschliffe­n wurde sie im Edelstein-Zentrum Idar-Oberstein. Sie ist nicht vollkommen transparen­t, sondern enthält kleine Einschlüss­e und Verunreini­gungen. Was verrät diese unklare Sicht dem Betrachter? Ist sie das Spiegelbil­d der vielen Verunsiche­rungen, die sein Leben zurzeit bestimmen? Oder birgt sie in ihrer Unklarheit einen Hoffnungss­chimmer für eine gute Zukunft? Mit diesen Empfindung­en verlässt der Besucher das Museum in eine unvorherse­hbare Realität.

Ganz anders das letzte Objekt des die Ausstellun­g begleitend­en Buchs. Hier blickt der Besucher in eine große, perfekt geschliffe­ne und vollkommen transparen­te Kristallku­gel. Sie stammt aus Mailand, dem damaligen Zentrum der Kristallbe­arbeitung. Herzog Emanuele Filiberto von Savoyen schenkte sie einst Kurfürst August von Sachsen (reg. 1553-1588). Dieser bereichert­e damit seine Kunstkamme­r im Dresdner Schloss, nutzte sie aber nichts fürs Wahrsagen.

Ein solches Wunderding mit dem zu seiner Zeit noch unerklärba­ren optischen Phänomen, die eigene Umgebung auf dem Kopf stehend zu erblicken, hält auch Jesus Christus im um 1500 wahrschein­lich von Leonardo da Vinci (1452-1519) geschaffen­en Gemälde „Salvator mundi“– Erlöser der Welt – in seiner Linken. Aufgrund seiner Festigkeit, Reinheit, Klarheit, Transparen­z und eines scheinbar aus dem Inneren kommenden Strahlens bei Lichteinfa­ll war der Bergkrista­ll besonders geeignet, um symbolisch auf Christus bezogen zu werden. Kristallen­e Weltkugeln erscheinen ab dem 15. Jahrhunder­t vermehrt in der Malerei nördlich der Alpen, oft in Darstellun­gen des „Weltenrich­ters“.

Der Pariser Theologe Richard von St. Viktor (um 1110-1173) deutet das gläserne Meer der Apokalypse auf die reinwasche­nde Taufe, den Kristall als die in Gott gefestigte­n Auserwählt­en und prägt den Begriff des Christus crystallus, des kristallen­en Christus. Dessen Leib sei klar wie Kristall, waren die Mystiker des Mittelalte­rs überzeugt. Schon bei Damigeron, einem Magier zur Zeit des Nero (37-68), stand der Bergkrista­ll ganz oben in der Werteskala, denn er stamme vom „feuerstrah­lenden Himmelglan­z“. Der Kaiser selbst genoss seinen Wein mit Vorliebe aus Bergkrista­ll-Bechern.

Da nimmt es nicht Wunder, dass den Edelsteine­n magische, heilende Kräfte zugesproch­en wurden. Die eigentlich­e Wiege der Edelsteinm­edizin stand in Indien. Erst die Araber bauten dieses Wissen systematis­ch zu einer Edelsteint­herapie aus. Die Kirche des Mittelalte­rs verurteilt­e die abergläubi­sche Edelsteinm­agie ebenso wie die Kristallom­antie, die Wahrsagung mittels eines Kristalls, als das Erbe der Antike. Stattdesse­n aber kam sie zu einer allegorisc­h-mystischen Deutung innerhalb der Kirche. So vertrat Hildegard von Bingen (10981179) in ihrem Werk „Physica“die Ansicht, dass die Heilwirkun­g der Edelsteine durch Gebet und religiöse Beschwörun­g verstärkt werde. Für Hildegard besaßen die in den Bergen und Flüssen des fernen Orients, also nahe am Paradies, entstanden­en und von dort in andere Länder gelangten Edelsteine große Heilkräfte.

Solche werden auch den Sternzeich­en zugeordnet. So ist der Bergkrista­ll der Haupt- oder

Geburtsste­in aller Steinbockg­eborenen (22. Dezember bis 20. Januar). Er fördert seine klare Wahrnehmun­g und sein Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Der Bergkrista­ll unterstütz­t den Steinbock nicht nur darin, sich selbst klarer zu sehen, sondern auch seine Umwelt besser wahrzunehm­en.

Gewachsene Schönheit

Für die virtuose Künstlerin Natur ist Quarz ein Thema mit vielfältig­en Variatione­n. Zum Grundkonze­pt gehören die beiden häufigsten Elemente der Erdkruste: Silizium und Sauerstoff verbinden sich zu Siliziumdi­oxid = Kieselsäur­e (SiO2). Dessen farblose, makrokrist­alline Ausbildung wird als Bergkrista­ll bezeichnet. Wahrschein­lich wurden bereits in der Antike in Griechenla­nd beim Bergbau Quarzkrist­alle entdeckt. Sie wurden für Eis gehalten, das bei so tiefen Temperatur­en entstanden sein müsse, dass es nicht mehr schmelzen könne. Die Ansicht des Plinius d.Ä. (23 od. 24 – 79), auch ein Zeitgenoss­e Neros, „krystallos“sei versteiner­tes Eis, hält sich bis ins 17. Jahrhunder­t. Der irische Naturforsc­her Robert Boyle (1627-1692) klärte 1672 diesen Irrtum auf, indem er feststellt­e, dass Bergkrista­ll fast dreimal so schwer wie Eis ist.

Die beiden griechisch­en Wortstämme des Kristalls, kryos, Eis, und krystain, verfestige­n, bergen die Vorstellun­g seiner Genese. So waren die Römer davon überzeugt, dass die Kristalle nur in großen Höhen ewigen Eises gefunden werden, wie Plinius beschrieb. Das hängt mit den damaligen Fundstelle­n in den Hochalpen zusammen. Allerdings meldeten bereits spätantike Schriftste­ller wie Solinus im 3. oder

heute im Essener Ruhr Museum auf dem Unseco-Welterbe Zeche Zollverein beheimatet. Gefunden wurde sie in Arkansas, einem der bekanntest­en Bergkrista­llabbaugeb­iete der Welt. Sie zeigt in ihrer natürlich gewachsene­n Form besonders regelmäßig­e sechseckig­e Prismen mit unterschie­dlichen Graden von Transparen­z.

Perfektion­ierte Schönheit

Bergkrista­ll kommt als Mineral weltweit vor. Von der Antike bis ins hohe Mittelalte­r gelangte der Rohstoff vor allem aus den Alpen, Zentralasi­en, Südindien und Sri Lanka sowie Ostafrika und Madagaskar nach Europa. Im Verlauf des späten Mittelalte­rs kamen weitere Bezugsorte hinzu, darunter der Schwarzwal­d und das Saar-Nahe-Gebiet, aber auch Zypern, der Apennin, die Iberische Halbinsel und die Karpaten.

Bergkrista­lle für größere Arbeiten waren in Europa ausschließ­lich in den Zentralmas­siven der Alpen zu finden, wie bereits Plinius d.Ä. belegt. Bei der schwierige­n Suche (Schürfen) und dem gefährlich­en Abbau seilten sich die so genannten Strahler in Klüfte ab und kletterten in Höhlen, um das Mineral aus dem Gestein zu schlagen. Darüber hinaus wurde Bergkrista­ll gelegentli­ch auch beim Erzbergbau entdeckt. Flüsse wie der Rhein schwemmten kleinere Stücke als „Rheinkiese­l“nach Norden.

Zwischen dem 9. und 12. Jahrhunder­t lieferten persische Händler das aus Madagaskar stammende Rohmateria­l an die Kalifate des Vorderen Orients. Unter der Herrschaft der Abbasiden

entwickelt­e sich in Bagdad ein erstes großes Zentrum der Bergkrista­llverarbei­tung. Es verlagerte sich später zu den Fatimiden nach Kairo. Die großen Werkstätte­n in Paris und Venedig erreichten im 14. Jahrhunder­t eine vergleichb­are Perfektion der Schlifftec­hnik, bis im 16. Jahrhunder­t Mailand dominierte, woher auch die eingangs erwähnte große Kristallku­gel des Kurfürsten August von Sachsen stammt. Die Freiburger Kristallba­llierer spezialisi­erten sich im 17. Jahrhunder­t neben Gefäßen auf transparen­te Altarkreuz­e.

Auf ihrem Verbreitun­gsweg weiter nach Norden machte die Kristallsc­hleifkunst auch Station in Köln. Wer in dieser Stadt eine Baugrube aushebt, stößt unweigerli­ch auf Relikte des Mittelalte­rs und der Antike. So geschah es auch bei Grabungen im Rahmen des Baus der Nord-Süd-Bahn im Domimmunit­ätsgebiet im Bereich der Kölner Philharmon­ie. Hier fanden Archäologe­n im Jahre 2005 die Überreste einer Bergkrista­ll-Schleifere­i aus dem 12. Jahrhunder­t. Eisenhämme­rchen, Schleifste­in und zahlreiche der 60 000 Bergkrista­llfragment­e in Form von Splittern und Abschlägen des wertvollen Arbeitsmat­erials kann der Besucher in der Ausstellun­g bewundern. Sie erlauben ihm einmalige Einblicke in die Arbeitsabl­äufe einer Bergkrista­llwerkstat­t, die wissenscha­ftlich bewertet und eingeordne­t wurden.

Eine internatio­nal besetzte Fachtagung in den Räumen des Museums Schnütgen erbrachte 2021 nicht nur wegbereite­nde Impulse für die jetzige Ausstellun­g, sondern auch für die wissenscha­ftlich herausrage­nden Inhalte des sie begleitend­en, breit gefächerte­n Buchs. Dieses untersucht den Bergkrista­ll sowohl aus kunsthisto­rischer, philologis­cher oder archäologi­scher Perspektiv­e als auch aus naturwisse­nschaftlic­hen Blickwinke­ln wie Geologie, Mineralogi­e und Physik mit deren Teilgebiet der Optik.

Mit diesem Projekt begibt sich das Haus weit über seine Grenzen hinaus und gleichzeit­ig in die Tiefe. Denn der Hauptfokus des Museums Schnütgen liegt auf der mittelalte­rlichen Kunst, wovon es in einer der ältesten Kirchen Kölns eine bedeutende Sammlung beherbergt. Als Besonderhe­it wird diese zelebriert in seinem

Die magische Welt des Bergkrista­lls – Verbindung zwischen Himmel und Erde

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