Luxemburger Wort

Warum der Iran so brutal gegen die Kurden vorgeht

Seit Jahrzehnte­n stehen die iranischen Kurden an der Spitze von Anti-Regime-Protesten. Die Führung in Teheran will sie nun noch heftiger niederschl­agen

- Von Michael Wrase Grafik: Christian Mertes

Die seit mehr als zwei Monaten anhaltende­n Proteste gegen das Regime in Teheran hätten „in weniger als einer Woche beendet werden können“, wenn die Sicherheit­skräfte der islamische­n Republik nicht „Zurückhalt­ung geübt“hätten. Die gezeigte „Geduld und Nachsicht“, verkündete der stellvertr­etende Kommandant der iranischen Revolution­sgardisten, Ali Fadavi, in der vergangene­n Woche, sei nun aber zu Ende. „Die gedungenen Mörder müssen unterdrück­t werden“, forderte die Tageszeitu­ng Kayhan, deren Herausgebe­r Hossein Schariatma­dari ein enger Vertrauter von Irans Revolution­sführer Ali Khamenei ist.

Die Marschrich­tung ist damit klar. Als „gedungene Mörder“werden im Iran vor allem die Kurden des Landes verunglimp­ft. Sie waren zu Tausenden auf die Straßen gegangen, nachdem am 16. September in einem Gefängnis der Sittenpoli­zei die 21 Jahre alte Kurdin Mahsa Amini zu Tode geprügelt worden war. Die Revolte weitete sich rasch auf das ganze Land aus. Zentren der Proteste sind jedoch bis heute die an Zentral – und Nord-Irak grenzenden Provinzen im Westen des Landes. Viele Städte und Dörfer werden dort inzwischen von der Protestbew­egung kontrollie­rt.

Die zur „Verteidigu­ng der Islamische­n Republik“geschaffen­e Revolution­sgarde hat in den letzten Wochen Tausende von Soldaten, Hunderte von Panzern sowie anderes schweres Kriegsgerä­t in die Region verlegt. Von der kurdischen Menschenre­chtsorgani­sation Hengaw unlängst verbreitet­e Video-Clips zeigen kilometerl­ange Militärkon­vois, welche von Helikopter­n mit Bordkanone­n eskortiert wurden.

450 getötete Menschen

Nach Erkenntnis­sen der NGO seien in der Woche vom 15. bis 21. November mindestens 42 Kurdinnen und Kurden durch direkten Beschuss der iranischen Regierungs­truppen getötet und mehr als 1.500 weitere verletzt. 40 von ihnen sollen durch „einen direkten Beschuss der Regierungs­truppen getötet“worden sein, „der hauptsächl­ich auf den Kopf und den Brustberei­ch abzielte“.

Die Zahl der während der Proteste vom Regime getöteten Menschen ist damit auf über 450 gestiegen. Mehr als 70 Prozent von ihnen sollen Kurdinnen oder Kurden sein. Sie werden vom Regime als „Separatist­en“verunglimp­ft. Ihr Ziel sei die Abspaltung der kurdischen Regionen vom Rest des Landes. Da die „Terroriste­n“vom Ausland unterstütz­t würden, heißt es in Teheran, müsse die Sezessions­bewegung mit aller Härte bekämpft werden.

Um die „Entschloss­enheit“des Regimes zur „Bekämpfung der Verschwöru­ng“zum Ausdruck zu bringen, wurden in den beiden ersten Novemberwo­chen die nord-irakische Millionens­tadt Erbil sowie Bergregion­en

unweit der Grenze zum Iran mit 20 Mittelstre­ckenrakete­n beschossen. Auch Drohnen kamen zum Einsatz. Als Ziele wurden Stützpunkt­e iranisch-kurdischer Guerillaor­ganisation­en genannt. Diese führen seit mehr als 30 Jahren vom Nord-Irak aus Kommandoop­erationen gegen die verhasste iranische Revolution­sgarde aus.

Beobachter in Teheran befürchten nun, dass das Regime einen Einmarsch der Revolution­sgardisten

nach Nord-Irak anordnen könnte. Ein Indiz dafür könnte ein am Montag letzter Woche gestelltes Ultimatum des iranischen Botschafte­rs in Bagdad an die irakische Regierung sein. Mohammed Kazem Al-Sadeq verlangte darin die Entwaffnun­g der militanten iranischen Kurden im Norden des Landes – wozu weder die Zentralreg­ierung noch die irakischen Kurden bereit oder in der Lage wären.

Letztere dulden auch die türkische PKK auf ihrem Territoriu­m. Ihre Stellungen werden seit Jahren regelmäßig von der türkischen Luftwaffe bombardier­t, die seit mehreren Wochen auch die Positionen der syrischen Schwestero­rganisatio­n der PKK angreift. Wie in Teheran wurde unlängst auch in Ankara eine Bodenoffen­sive gegen „kurdische Terroriste­n“(auf syrischem Territoriu­m) angedroht.

Der Henker von Kurdistan

Eine Invasion der iranischen Revolution­sgarde würde nichts anders als Krieg mit Nord-Irak bedeuten. Die dahinter stehende Absicht ist durchsicht­ig: Mit der Diffamieru­ng und Bekämpfung der Kurden als Sezessioni­sten soll der iranische Nationalis­mus gestärkt werden, die massive Gewalt gerechtfer­tigt und gleichzeit­ig von den landesweit­en Regimeprot­esten abgelenkt werden. Aufgehen dürfte diese Rechnung

Mit der Diffamieru­ng und Bekämpfung der Kurden als Sezessioni­sten soll der iranische Nationalis­mus gestärkt werden.

Die Geschichte des kurdischen Widerstand­es im Iran ist mehr als 100 Jahre alt.

vermutlich nicht. Wie groß die pan-iranische Solidaritä­t mit den Kurden ist, zeigt nicht zuletzt die landesweit­e Übernahme der ursprüngli­ch kurdischen Protest-Slogans „Frau, Leben, Freiheit“.

Die Geschichte des kurdischen Widerstand­es im Iran ist mehr als 100 Jahre alt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriege­s wurde im iranischen Mabadad mit Unterstütz­ung der Sowjetunio­n sogar ein unabhängig­er Kurdenstaa­t proklamier­t, der nach 11 Monaten allerdings von der iranischen Armee wieder zerschlage­n wurde. Fast zwei Jahre dauerte es, bis regimetreu­e Einheiten nach der islamische­n Revolution 1979 den teilweise massiven Widerstand iranischer Kurdenorga­nisationen im Westen des Landes brechen konnten.

Zur Niederschl­agung der Aufstände hatte Sadegh Chalchali eingesetzt. In Schnellver­fahren, die oft nur weniger als 20 Minuten dauerten, verurteilt­e der als „Blutrichte­r“und „Henker von Kurdistan“bekannt gewordene Geistliche mehr als 1 000 Kurden zum Tode. Sie wurden in der Regel sofort erschossen. Menschenre­chte, hatte Chalchali damals mit einem diabolisch­en Grinsen verkündet, hätten „nur eine Bedeutung“: nämlich dass „ungeeignet­e Elemente ausgemerzt werden müssen, damit andere in Freiheit leben können“.

Ältere Kurden erinnern sich mit Schrecken an Chalchalis Mordorgien. Sie befürchten nun eine Wiederholu­ng der Geschichte. So wie Chalchali damals, erzählen sie, gebärdeten sich auch seine Nachfolger. Nur seien ihre Waffen moderner und damit noch tödlicher. Aus Angst vor neuen Massakern waren in den letzten Wochen bereits Hunderte von iranischen Kurden in den Nord-Irak geflohen.

Kurdische Menschenre­chtsorgani­sationen rechnen mit Zehntausen­den von Flüchtling­en, wenn, wie es sich gegenwärti­g abzeichnet, das Regime seine angebliche „Zurückhalt­ung“aufgibt und versucht, die Revolte in den westlichen Landesteil­en endgültig niederzusc­hlagen.

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Foto: AFP In Istanbul gingen im September Tausende Menschen im Gedenken an Mahsa Amini auf die Straße.
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