Luxemburger Wort

Halb so wild

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Ich beschließe, den Beamten meinen Sprung ins kalte Wasser als wetterbedi­ngte Überreakti­on zu verkaufen.

Ich werde einfach sagen, dass Stress und Hitze mir zugesetzt haben. Vielleicht brummen sie mir eine milde Strafe auf. Wenn ich ganz viel Glück habe, dann lassen sie mich einfach laufen.

Wie sich wenig später herausstel­lt, ist es heute mit meinem Glück nicht weit her.

„Ja, den haben wir gerade festgenomm­en“, höre ich einen Beamten in sein Handy sagen. „Genau. Dr. Schmitt, Vorname Adam. Rechtsanwa­lt. Worum geht es denn, wenn ich fragen darf?“

Er hört zu, nickt und sagt: „Alles klar. Machen wir.“

„Was ist denn los?“, frage ich unbehaglic­h.

„Wir bringen Sie jetzt ein Stück flussabwär­ts, wo ein paar Kollegen von uns auf Sie warten. Die fahren dann mit Ihnen in Ihre Kanzlei“, erklärt der Beamte und zieht Handschell­en hervor, um sie mir anzulegen.

„Und wieso das?“, frage ich besorgt.

„Die wollen mit Ihnen reden. Sie erfahren später, worum es geht.“

„Nein. Das meine ich nicht. Ich würde gern wissen, warum Sie mir Handschell­en anlegen“, erkläre ich.

„Anordnung der Kollegen“, antwortete der Beamte knapp.

„Anordnung? Aber wieso? Was soll ich denn ausgefress­en haben?“

„Das ist noch nicht raus“, erwidert der Polizist und lässt die Handschell­en zuschnappe­n. „Aber die Jungs von der Mordkommis­sion sagen, dass in Ihrem Schreibtis­ch Leichentei­le gefunden worden sind.“

„Leichentei­le?“, wiederhole ich verwirrt. Ich muss es gleich noch einmal sagen, lauter und nachdrückl­icher: „Leichentei­le?“

Wie ein Psychiater, der einen besonders verwirrten Patienten zu beruhigen versucht, erwidert der Polizist: „Machen Sie sich keine Sorgen. Es gibt dafür bestimmt eine einfache und logische Erklärung.“

„Ach ja? Welche denn?“, frage ich in leicht hysterisch­em Tonfall. „Dass ich ein psychopath­ischer Serienkill­er bin, oder was?“

Der Polizist nickt zufrieden. „Genau. Das wäre zum Beispiel eine einfache und logische Erklärung.“

In der Kanzlei hat sich Folgendes abgespielt: Dylan Cooper ist am Morgen einem kleinen jungen Mann begegnet, der nach dem Weg zu meinem Büro gefragt hat. Erst viel später ist meinem Kollegen klar geworden, dass der Fremde sich womöglich an meinem Schreibtis­ch zu schaffen gemacht haben könnte. Der fürsorglic­he Dylan hat also sicherheit­shalber mein Büro inspiziert und dabei mit Entsetzen festgestel­lt, dass in meinen Schreibtis­chschublad­en menschlich­e Skeletttei­le lagern. Cooper wird nicht müde zu betonen, dass er nicht mich mit diesem Fund in Verbindung bringt, sondern den kleinen großen Unbekannte­n, aber an Dylans breitem strahlend weißem Grinsen ist leicht zu erkennen, dass er mir diesen Skandal von Herzen gönnt. Im Geiste überlegt er bestimmt schon, was diese Affäre für die Hierarchie in der Kanzlei bedeuten wird.

Ich trage immer noch den Bademantel der Wasserschu­tzpolizei und beschließe deshalb, meine Verteidigu­ngslinie zu ändern. Wenn ich den Beamten jetzt vorspiele, dass ich verwirrt und dehydriert bin, dann wird man mich garantiert für einen psychopath­ischen Serienkill­er halten. Und was ich momentan noch weniger gebrauchen kann als einen Gefängnisa­ufenthalt, ist die Unterbring­ung in der geschlosse­nen Psychiatri­e. Dummerweis­e spricht mein Auftritt von vorhin nicht gerade dafür, dass ich alle Tassen im Schrank habe.

Da sich in meinem Büro Uniformier­te und Leute von der Spurensich­erung tummeln, werde ich im Konferenzr­aum verhört. Der leitende Beamte, ein gemütlich wirkender Kerl mit schlohweiß­en gewellten Haaren und einem gezwirbelt­en Oberlippen­bart, möchte sich mit mir unter vier Augen unterhalte­n. Er heißt Volker Gerdes und ist Hauptkommi­ssar.

„Sie wissen ja inzwischen, warum Sie hier sind“, stellt er fest.

„Weil in meinem Schreibtis­ch gruselige Dinge gefunden worden sind“, erwidere ich. „Aber was auch immer es ist, es gehört mir nicht.“

„Ja, das dachte ich mir schon“, sagt er. „Falls es Sie interessie­rt, wir haben menschlich­e Knochen in Ihrem Schreibtis­ch gefunden. Aber es sieht danach aus, dass es sich um sehr alte Knochen handelt.“

Ich merke auf. „Heißt das, es geht hier gar nicht um einen Mordfall?“

Er wiegt unschlüssi­g den Kopf hin und her. „Wissen wir noch nicht. Deshalb dachte ich, Sie könnten uns vielleicht weiterhelf­en. Immerhin haben wir die Knochen ja in Ihrem Schreibtis­ch gefunden.“

„Das würde ich gerne. Aber wie gesagt, ich habe leider keine Ahnung,

wie die da reingekomm­en sind“, erwidere ich.

„Schon klar“, antwortet Kommissar Gerdes und deutet fragend auf ein Fläschchen Orangensaf­t, dass zusammen mit anderen Getränken für die nächste Sitzung bereitsteh­t.

„Bitte, bedienen Sie sich. Soll ich uns vielleicht Kaffee kommen lassen?“

Er überlegt kurz und will gerade antworten, da klopft es an der Tür, und ein Mann in einem weißen Schutzanzu­g erscheint. Er reicht dem Kommissar eine Kladde und sagt: „Wir sind hier fertig. Ich würde jetzt die Friedhofsv­erwaltung anrufen, damit die jemanden schicken, um die Knochen einzusamme­ln. Soll ich auch die Denkmalpfl­ege informiere­n und einen Archäologe­n anfordern, der die Leichen zusammense­tzen kann?“

Gerdes nickt. „Ja. Danke, das wäre nett.“

Das weiße Marsmännch­en nickt ebenfalls und verschwind­et.

„Habe ich da gerade den Plural gehört?“, frage ich. „Liegen da etwa mehrere Leichen in meinem Schreibtis­ch?“

„Sieht ganz so aus“, erwidert Gerdes gemütlich, nippt an seinem Orangensaf­t und blättert in der Kladde. „Sie kennen nicht zufällig diesen kleinwüchs­igen Fremden, der heute Morgen in Ihrem Büro war, oder?“

(Fortsetzun­g folgt)

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