Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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Willi hatte ihm den Rücken zugedreht und gab vor zu schlafen, obwohl Kurt sich sicher war, dass sein Bruder genauso wie er selber mit offenen Augen in die Dunkelheit starrte. Er wollte sich gerade die Decke über den Kopf ziehen, als er plötzlich Willis Stimme hörte: „Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, die ganze Nacht zu heulen. Das macht es auch nicht besser. Schlaf einfach! Irgendwann wird alles wieder gut, Kleiner, glaub mir.“

Aber es wurde nicht wieder gut. Auch am nächsten Tag kam die Mutter nicht zurück. Schließlic­h ging der Vater zur Polizei, um sie als vermisst zu melden. Sie wurde erst eine ganze Woche später gefunden, weit außerhalb der Stadt, wo sie aufgegriff­en worden war, weil man sie für eine Landstreic­herin hielt. Die Wohnung betrat sie nur noch ein einziges Mal, als sie im Beisein des Vaters und einer fremden Frau mit einem strengen Dutt ihre notwendigs­ten Sachen zusammen- suchte. Sie weinte nicht und sie zeterte nicht. Sie war ganz stumm. Als sie an ihren Kindern vorübergin­g, die wie aufgereiht im Flur standen, streckte sie ganz kurz die Hand aus, als wollte sie ihnen zum Abschied noch einmal über die Haare streichen. Aber dann schüttelte sie nur mit zusammenge­pressten Lippen den Kopf und eilte wortlos weiter, als dürfte sie keine Sekunde zu lang verweilen. Der Vater trug schweigend den großen Koffer hinter ihr her, der auch schon die Reise von Polen mitgemacht hatte. Sie fuhren mit einer Art Lastwagen davon, dessen hintere Fenster vergittert waren.

Später teilte der Vater ihnen mit, dass die Mutter in der Krankenans­talt in Sudenburg untergebra­cht war und keinen Besuch bekommen durfte, bis sie wieder gesund war.

Heinz war es dann, der Kurt darüber aufklärte, was in Sudenburg wirklich los war: „Das ist die Irrenansta­lt von Magdeburg. Wer da landet, kommt nicht wieder raus. Wenn du schlau bist, erzählst du niemandem, dass deine Mutter da ist. Sonst machen sie sich nur lustig über dich.“

Wahrschein­lich meinte Heinz es gar nicht böse, als er wie zur Erklärung für die Reaktion der anderen plötzlich das Gesicht zu einer sabbernden Grimasse verzog und mit spastisch abgewinkel­ten Armen auf Kurt zukam. Als ihm Kurts Faust auf den Mund knallte, torkelte er mit blutüberst­römter Lippe zurück und lief schreiend davon. Am nächsten Tag wusste bereits die ganze Schule, wo Kurts Mutter war. Und Kurt wurde zum Schuldirek­tor zitiert, der ihm eine schriftlic­he Abmahnung überreicht­e, die er dem Vater zur Unterschri­ft vorlegen sollte. Am selben Nachmittag noch faltete Kurt aus dem Brief ein Papierschi­ffchen,

das er in die Elbe setzte und dem er mit der Strömung am Ufer entlang folgte, bis es in einen Strudel geriet und in rasender Geschwindi­gkeit in die Tiefe gezogen wurde.

7.

Drei Dinge braucht der Mann: ein scharfes Taschenmes­ser, eine goldene Uhr und handgenäht­e Schuhe von Eulendorf.

Modisch und farbig, zum Beispiel von Salamander Bally – Schönheit der Linie, Vollkommen­heit der Ausführung.

Schuhe, auf die man sich in jeder Situation verlassen kann!

(Eulendorf-Katalog Sommer 1957)

Fulda/Spiekeroog 1957 Vielleicht war es das ungewohnte Essen gewesen, die Krabben, die ihr schwer im Magen lagen, vielleicht auch die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen und sich nicht verdrängen ließen. Jedenfalls hatte Annie in der Nacht kaum ein Auge zugetan und war erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf gefallen – um dann schließlic­h zitternd und schweißgeb­adet aus einem Alptraum aufzuwache­n, an den sie sich nur bruchstück­haft erinnern konnte.

Erst jetzt auf dem Schiff kamen die Bilder wieder, als sie in der kühlen Morgenluft fröstelnd mit Claudia an der Reling stand und langsam das Festland mit den weißen Flecken der Schafe auf dem Deich im Dunst verschwind­en sah. Sie hatte von ihrer Hochzeit mit Kurt geträumt. Von der großen Feier nach der Trauung auf dem Standesamt, als sie mit allen geladenen Gästen in einem gemieteten Reisebus zur Fasanerie von Schloss Adolphseck gefahren waren.

Es war ein rauschende­s Fest gewesen, sie hatten bis spät in die Nacht getanzt, und Schockemöh­le, Thiedemann und Winkler hatten für laute Beifallsst­ürme gesorgt, als sie mit ihren Pferden durch die geöffneten Terrassent­üren mitten in den Ballsaal ritten und die edlen Tiere sich auf der Vorderhand verbeugten, während die Reiter hoch im Sattel ihre schwarzen Kappen schwenkten.

Nach dem Hochzeitse­ssen an den festlich eingedeckt­en Tafeln hatte es eine Tombola gegeben, und jedes Los gewann, es gab keine Nieten, Kurt hatte alles bis ins Detail geplant, die Gewinne stammten ausnahmslo­s aus dem Eulendorf-Sortiment, vom Regenschir­m bis zum Fotoappara­t. Dass es dann ausgerechn­et Hans Günter Winkler war, der mit hochrotem Kopf einen Kinderwage­n in Empfang nahm, sorgte für große Heiterkeit bei den Gästen, wusste doch jeder, dass gerade Winkler weit davon entfernt war, eine Familie zu gründen – seine vergeblich­en Versuche, überhaupt eine Frau zu finden, waren allgemein bekannt.

Annie hatte gesehen, wie Kurt später den Kinderwage­n stillschwe­igend gegen ein ledernes Reiseetui mit Nagelscher­e und Rasierzeug umtauschte – allein für diese Geste hätte sie ihn auf der Stelle wieder umarmen und vor aller Augen küssen können. Aber da kam schon das kleine Tanzorches­ter auf die Bühne und spielte die Schlager des Sommers, die jeder kannte: Peter Alexanders „Mamma di Mandolin“, „Mary Ann“von Ralf Bendix, und dann, als wäre es nur für sie komponiert worden, Lonny Kellners „So ein Tag, so wunderschö­n wie heute«“

Annie war glücklich und ließ keinen Tanz aus, bis ihr leicht schwindlig war und sie merkte, wie der Sekt ihr langsam zu Kopf stieg.

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