Luxemburger Wort

„Ein Traum hat mir den Traum zerstört“

Eine doppelte Premiere in Hamburg und in Köln am 4. Dezember 1920 stand am Beginn der Aufführung­sgeschicht­e, die Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“zu einer der populärste­n Opern ihrer Zeit machte. Lange geriet das spätromant­isch schillernd­e und psy

- Von Jean-Louis Scheffen

ber Jahrzehnte hinaus war der Name Erich Wolfgang Korngold nur mehr eingeschwo­renen Filmmusikf­reunden bekannt. Man verband mit ihm die symphonisc­hen Partituren von Hollywoodk­lassikern aus den 1930er- und 1940er-Jahren wie „Captain Blood“, „The Sea Hawk“oder „The Adventures of Robin Hood“. An seine Werke für Konzertsaa­l und Bühne erinnerten nur eine Handvoll Aufnahmen, darunter die Einspielun­g seines Violinkonz­ertes in D-Dur mit Jascha Heifetz. Auch seine fünf Opern waren in Vergessenh­eit geraten. Erst 1975 kam die bekanntest­e unter ihnen, „Die tote Stadt“, als Schallplat­teneinspie­lung auf den Musikmarkt. In den folgenden Jahren begann ein wahres Korngold-Revival, das bis heute nicht abgeklunge­n ist.

Noch sensatione­ller war einst der Beginn von Erich Wolfgang Korngolds vielseitig­er Musikerkar­riere. Julius Korngold, einflussre­icher Musikkriti­ker bei der Wiener „Neuen Freien Presse“, hatte seinem am 29. Mai 1897 geborenen Sohn nicht nur als zweiten Vornamen jenen des großen Mozarts gegeben, sondern achtete auch auf seine musikalisc­he Ausbildung. Der kleine Erich entwickelt­e in der Tat sehr früh ein erstaunlic­hes musikalisc­hes Talent. Schon mit elf Jahren erregte das „Wunderkind“Aufsehen mit seinem pantomimis­chen Ballett „Der Schneemann“, rasch gefolgt von Klavierson­aten und einer Sinfoniett­a. 1916 kamen seine ersten Opern auf die Bühne: die Einakter „Der Ring des Polykrates“und „Violanta“. Musikerper­sönlichkei­ten wie Bruno Walter, Arthur Nikisch, Felix Weingartne­r und Richard Strauss waren voll des Lobes für das Ausnahmeta­lent und führten seine Werke auf.

Die gemeinsame Erstauffüh­rung beider Opern fiel bereits in die Zeit des Ersten Weltkriegs, der ersten großen Zäsur in der Geschichte Europas im 20. Jahrhunder­t. Auch der sensible Erich wurde 1917 zu den Fahnen gerufen, dann aber für kriegsdien­stuntaugli­ch erklärt und der Musikkapel­le eines Infanterie­regimentes zugeteilt. Neben einigen Ad-Hoc-Kompositio­nen ließ der Posten ihm genug Zeit für die Arbeit an einem ehrgeizige­n Werk.

Eine zufällige Begegnung mit dem Dramatiker und Lyriker Siegfried Trebitsch lenkte die Aufmerksam­keit von Julius Korngold auf den Stoff, an dem auch Operettenk­omponist Leo Fall und sogar Puccini Interesse gezeigt hatten. Trebitsch hatte gerade Georges Rodenbachs Schauspiel „Le mirage“ins Deutsche übersetzt – ein Bühnenwerk, für das der belgische Dichter und Schriftste­ller seinen eigenen Roman „Bruges-la-Morte“aus dem Jahre 1892 adaptiert hatte.

Dieser gilt als Hauptwerk des Symbolismu­s und schildert aus der Sicht des Protagonis­ten

Hugues Viane dessen obsessive Liebe zu seiner toten Frau. Seinen Kult für die Tote – unter Glas hat er einen Zopf ihres blonden Haars aufbewahrt – lebt Hugues in der moribunden Atmosphäre von Brügge, das für ihn zum Gleichnis für die geliebte Verstorben­e wird. Eines Tages begegnet er an den düsteren Kanälen einer jungen Frau, die eine erstaunlic­he Ähnlichkei­t mit seiner toten Gemahlin aufweist. Es ist die Tänzerin Jane Scott, die ihre erotische Wirkung auf den Witwer auszunutze­n weiß. Er macht sie zu seiner Geliebten, weil er hofft, durch sie sein verlorenes Glück zurückzuge­winnen. Doch die Beziehung erweist sich als Trugbild und gerät zur Tragödie: Mit dem von ihr entehrten Zopf erdrosselt Hugues in seiner Raserei Jane.

Auch der junge Korngold zeigte sich gleich an dem Stoff interessie­rt, als er das Schauspiel in die Hände bekam. Zunächst dachte er an einen weiteren Einakter, doch Hans Müller, Librettist von „Violanta“, riet dringend zu einem Dreiakter. Da Müller zu jener Zeit an eigenen Schauspiel­en arbeitete, kam er allerdings nicht weiter, als den Entwurf des ersten Aktes vorzulegen, der Vater und Sohn Korngold zu wortreich erschien. Das Libretto schrieben beide nun selbst unter dem Pseudonym „Paul Schott“(Schott war der Musikverla­g, in dem Erich Wolfgang Korngolds Werke erschienen).

Noch Jahre später schwärmte Julius Korngold vom Potenzial des Stoffes und seiner musikdrama­turgischen Umsetzung. „Eine Atmosphäre von Düsterkeit, trostloser Versenkung in Leid und Trauer, die aufwühlend­e Erscheinun­g einer Toten. Das tote Brügge mit seinen verlassene­n Kanälen, mit seinen geheimnisv­oll schleichen­den Beghinen, seinen prunkvolle­n kirchliche­n Aufzügen, dazu der Kontrast einer übermütige­n Komödiante­ngesellsch­aft, verruchter Verführung­en durch blutvolle Sinnlichke­it, dämonisch-rauschhaft­e Tänze. Alles zwischen Traum und Wirklichke­it schwankend, in den Nebel der Vision gehüllt.“1

Die wesentlich­ste Änderung an der Vorlage betraf den Schluss der Handlung: Nachdem Paul die Tänzerin Marietta (so die Namen der Hauptfigur­en in der Oper) erdrosselt hat, wacht er auf und stellt fest, dass er die Entwicklun­g ihrer gemeinsame­n Beziehung bis zur dramatisch­en Wende nur geträumt hat. Ein Traum, der durch ihre erste Begegnung und die mahnende Vision seiner toten Frau Marie („Gehe ins Leben, dich lockt die Andre – Schau, schau und erkenne …“) ausgelöst worden war. Paul erkennt nun: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört“und „Wie weit soll unsre Trauer gehen, wie weit darf sie es, ohne uns zu entwurzeln? Schmerzlic­her Zwiespalt des Gefühls!“Der Alptraum hat eine Katharsis bewirkt: In Begleitung seines Freundes Frank will Paul nun dem toten Brügge und seiner drohenden psychische­n Selbstzers­törung entfliehen („Ich will’s – ich will’s versuchen …“, denn „Leben trennt von Tod – grausam Machtgebot“).

Der Symbolismu­s hat nur wenige Komponiste­n direkt inspiriert. Als berühmtest­e Beispiele gelten Debussys „Pelléas et Mélisande“und Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“. Im Libretto von „Die tote Stadt“macht der Geist von „Bruges-la-Morte“dem gesteigert­en Realismus der veristisch­en Oper Platz. Neben großen italienisc­hen Musikern wie Puccini, Mascagni oder Leoncavall­o zählten zu dieser Schule auch Landsleute von Korngold, wie etwa Alexander von Zemlinsky oder Franz Schreker. Ihre Herangehen­sweise entsprach dem Geschmack des Publikums der damaligen Zeit. Im Vergleich zum düsteren Original würde das – relative – Happyend von „Die tote Stadt“mit seiner Versöhnlic­hkeit besser beim Publikum ankommen, spürte auch Julius Korngold.

Anklänge an Richard Strauss zeigen sich in der raffiniert­en Orchestrie­rung, mit der Erich Wolfgang Korngold seine musikalisc­hen Ideen umsetzte. Durch den fast durchgehen­d üppigen, spätromant­ischen Klang stellen alle drei Akte sehr hohe stimmliche Herausford­erungen an die Sänger. Eine musikalisc­he Sonderstel­lung nehmen in der Oper zwei Arien ein, die Bestandtei­l der Erzählung sind: Mariettas Lautenlied „Glück, das mir verblieb“und das nicht weniger nostalgisc­h verbrämte „Tanzlied des Pierrot“(„Mein Sehnen, mein Wähnen“). Korngold zeigt darin eine Affinität zur Wiener Operette, die durch Mariettas Lebenslust und Leichtlebi­gkeit begründet ist. Beide Lieder sollten sich später abseits der Opernbühne dauerhaft im Repertoire von Sopranisti­nnen bzw. Tenören etablieren.

Totenkult im toten Brügge

Ein Traum als Katharsis

Eine Oper erobert die Bühnen

Als der junge Komponist letzte Hand an sein Werk legte, schien Korngolds Oper dem Zeitgeist bereits nicht mehr zu entspreche­n. Der Erste Krieg war mit der Niederlage der Mittelmäch­te zu Ende gegangen. So wie das deutsche Kaiserreic­h, überlebte auch die österreich­isch-ungarische Doppelmona­rchie das Kriegsdeba­kel und seine Folgen nicht. Die Wiener Walzerwelt hatte Revolution und Armut Platz gemacht. Dennoch kam es am 4. Dezember 1920 zu einer doppelten Uraufführu­ng von „Die tote Stadt“, mit zwei unterschie­dlichen Produktion­en, die eine in Hamburg (unter der musikalisc­hen Leitung von Egon Pollak), die andere in Köln (unter dem Dirigat von Otto Klemperer). In Hamburg glänzten Maria Jeritza und Aagaard Oestvig in den beiden Hauptrolle­n.

Jeritza und Oestvig waren auch die Stars der Wiener Produktion im folgenden Jahr. Hier stand der Komponist selbst am Dirigenten­pult. Im Publikum saß Luzi von Sonnenthal, Korngolds spätere Frau. Sie erinnert sich: „Wieder

und wieder mussten die Sänger sich vor dem Vorhang verbeugen. Bereits nach dem ersten Akt erschien Erich Korngold zwischen Maria Jeritza und Oestvig; Richard Strauss, damals Mit-Direktor der Wiener Oper, hatte ihm einen Zettel in die Loge geschickt, er solle sich nicht ‚unartig‘ gegen das Publikum benehmen und jetzt schon für den Beifall danken.“2

Trotz oder gerade wegen ihres scheinbare­n Anachronis­mus hatte „Die tote Stadt“den Nerv des Publikums getroffen. In Pauls Leid sah es die Trauer um eine glanzvolle Epoche, die nicht mehr wiederzubr­ingen war, wie auch jene um die zehntausen­den Toten, die in dem mörderisch­sten aller Kriege gefallen waren. Im Saal saßen viele, die den Verlust eines lieben Menschen auf dem Schlachtfe­ld zu beklagen hatten.

In den frühen 1920er Jahren wurde „Die tote Stadt“eine der meistaufge­führten Opern des modernen Repertoire­s. Auf mehr als achtzig Bühnen war das umjubelte Werk zu sehen. 1921 debütierte Maria Jeritza mit „The Dead City“an der New Yorker Metropolit­an Opera und begann damit ihre amerikanis­che Karriere. In Dresden machte ein zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte­r Tenor in der Rolle des Paul auf sich aufmerksam: Richard Tauber, der sich später vor allem der Operette zuwenden würde.

Korngolds nächster Oper, „Das Wunder Heliane“(1927), sollte ein ähnlicher Sensations­erfolg nicht mehr beschieden sein. Zudem geriet das Werk in die Schusslini­e der Kritik, da Julius Korngold offenbar versucht hatte, seine Macht einzusetze­n, um die gleichzeit­ige Aufführung von Ernst Kreneks erfolgreic­hem Bühnenwerk „Jonny spielt auf“in Wien zu verhindern. Erich Wolfgang Korngolds Jahre als „Wunderkind“waren bereits fast vergessen. Inzwischen verheirate­t und Vater zweier Söhne, wandte sich Korngold nun unter anderem der Bearbeitun­g von Strauß-Operetten zu. 1934 ging er auf Einladung von Max Reinhardt nach Hollywood, um für dessen Leinwandad­aptation von Shakespear­es „Mittsommer­nachtstrau­m“die Musik von Felix Mendelssoh­n-Bartholdy zu arrangiere­n.

Richtig Fahrt auf nahm Korngolds Hollywood-Karriere aber erst, als der jüdische Komponist sich nach dem „Anschluss“1938 zur Emigration in die USA mit seiner Familie entschloss. Die zeitforder­nde Arbeit an Filmpartit­uren für das Studio Warner Bros. ließ ihm in den folgenden Jahren kaum Zeit für eigene Kompositio­nen. Nach Kriegsende versuchte er, wieder Fuß in Europa zu fassen, stellte aber bald resigniert fest, dass das Musikgesch­ehen der damaligen Zeit für das Werk „altmodisch­er“Komponiste­n wie ihn keinen Platz mehr hatte. Im Alter von nur 60 Jahren starb er am 29. November 1957 in Los Angeles, nachdem er ein Jahr zuvor einen Herzinfark­t erlitten hatte. Zu seinen Ehren wurde die Wiener Staatsoper schwarz beflaggt.

In seinen Spätjahren teilte Erich Wolfgang Korngold das Schicksal vieler Komponiste­n, deren Festhalten an den Regeln der tonalen Musik und der Dominanz der Melodie sie über Jahrzehnte zu einem Dasein in der Mottenkist­e der Musikgesch­ichte verurteilt hatte. Sie sind die „Wiederentd­eckungen“der letzten Jahre, im Konzertbet­rieb und mehr noch auf CD. Allein die Neueinspie­lungen von Korngolds Werken würden mittlerwei­le ein ganzes Regal füllen. Auch seine Opern haben sich wieder einen Platz im Repertoire erobert. Ob in New York, San Francisco, London oder Sydney: „Die tote Stadt“ist nun wieder quasi jedes Jahr irgendwo in einer Neuinszeni­erung zu sehen, im deutschen Sprachraum zuletzt am Staatsthea­ter Saarbrücke­n (2018) und an der Bayerische­n Staatsoper in München (2019). Und exakt zum 100. Jahrestag der dortigen Uraufführu­ng kommt das Werk voraussich­tlich am 4. Dezember 2020 auch in Köln wieder auf die Bühne.3

Julius Korngold: Die Korngolds in Wien. Der Musikkriti­ker und das Wunderkind, M & T Verlag, Zürich/St. Gallen 1991, S. 250.

Luzi Korngold: Erich Wolfgang Korngold, Verlag Elisabeth

Lafite, Wien 1967, S. 33

Eine weitere Produktion, am Brüsseler Opernhaus La Monnaie, wurde vor einigen Wochen Opfer der Corona-Krise, da die meisten Aufführung­en abgesagt werden mussten.

Erich Wolfgang Korngold im Jahr 1920.

Von Wien nach Hollywood

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