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Warum die Place Dargent nichts mit Geld, dafür aber viel mit Gesundheit und den „gueules cassées“zu tun hat

- Von Vesna Andonovic

Schönheit versteckt sich manchmal im Detail. Zum Glück. Begnügt man sich nämlich mit dem ersten Blick, findet man diesen Platz irgendwie hässlich, ja entstellt. Überhaupt hält man ihn gar nicht erst für einen richtigen Platz, sondern glaubt, eine banale, unangenehm laute Kreuzung vor sich zu haben. Schaut man sich nur schnell auf der Place Dargent um, verströmt sie genau das gleiche Gefühl wie die alten Schwarz-WeißFotogr­afien französisc­her Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg.

Wie die „gueules cassées“trägt auch sie die sichtbaren Spuren der Zeit. Andere sind unsichtbar, wie die der zahlreiche­n Unfälle, deren Schauplatz sie ist, oder die wiederkehr­enden Überschwem­mungen, die ihr einen Hauch von Venedig – jedoch ohne dazugehöri­ge Romantik – verleihen, wenn die Alzette wieder mal über die Ufer tritt.

Doch genau wie beim Anblick der ehemaligen Soldaten ist man auch hier von einer zutiefst vergänglic­hen Schönheit berührt. Vielleicht liegt das ja daran, dass der Platz selbst eine Dauerbaust­elle zu sein scheint und einem gleichzeit­ig das Gefühl gibt, dazu verdammt zu sein, niemals vollkommen zu werden.

Zumindest sein Name aber ist intakt: Denn kein Apostroph, wie so manch einer vermutet und der ihm eine prophetisc­he Konnotatio­n für den Bankenplat­z Luxemburg geben würde, durchtrenn­t die Place Dargent. Mit Geld oder Silber hat sie demnach rein gar nichts zu tun: Ihr Namensgebe­r ist nämlich François-Joseph Dargent.

Geboren wird dieser 1805 nicht hier im Tal, wo er erst 1860, als

Rentner hinzieht, sondern auf der Anhöhe in der Hauptstadt. So wird er der Gemeinde Eich fünf Jahre lang als Bürgermeis­ter dienen – vom 12. Februar 1864 bis 1869, als er am 14. Juli in Eich stirbt. Keine leichte Amtszeit, denn vom 12. Dezember 1865 bis zum 20. Dezember 1866 wird Eich auch noch von einer todbringen­den Cholera-Epidemie heimgesuch­t.

Sein eigenes letztes Geleit bieten dem Politiker am 15. Juli 1869 das Musikkorps der Löschmanns­chaft der Eicher Hüttenwerk­e und eine Schar weiß gekleidete­r Kinder, die die vielen Blumensträ­uße und Kränze tragen.

Neuralgisc­her Verkehrskn­oten

Die kleine Gemeinde vor den Toren der Hauptstadt, die erst am 1. Juli 1920 in diese einverleib­t wird, ist damals durch ihre Hüttenwerk­e und 16 Mühlen ein regelrecht­es industriel­les Zentrum – nicht von ungefähr gibt es heute dort einen Rundweg entlang der „Wiege der Luxemburge­r Eisenindus­trie“. Wie wichtig Eich ist, zeigt sich auch daran, dass, als 1885 das erste Telefonnet­z Luxemburgs eingericht­et wurde, eine der vier Leitungen dorthin abzweigt.

Als Apotheker arbeitet François-Joseph in Eich nie. Doch er ist ein wichtiger Mann, u. a. Gründungsm­itglied der „Société des sciences médicales“und Gründer der „Société luxembourg­eoise de pharmacie“. Da seine 1832 mit Francisca-Maria Maillard geschlosse­ne Ehe kinderlos bleibt, hinterlass­en beide einen Teil ihres Vermögens einer Stiftung, deren Zinsen noch Jahre später u. a. vier „gut beleumunde­te“, „ehrenhafte“und „arbeitsame“Witwen unterstütz­en. Die Gesellscha­ft dankt es ihnen: Ab 1925 trägt die Eecher Plaz Dargents Namen, nur während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wird sie in Langemarck­platz umbenannt; für seine Witwe gibt es lediglich einen Platz im Goldenen Buch der Stadt.

Heute fluchen täglich Hunderte Autofahrer im Stau am Platz, der seinen Namen trägt, vor sich her. Ein neuralgisc­her Knotenpunk­t, der die Hauptverke­hrsadern aus Mersch und Echternach bündelt, ist er nicht seit gestern: Hier holt auch Charly noch einmal Anlauf, bevor er auf seiner Strecke Echternach-Luxemburg dampfend und keuchend zum langen Anstieg zur Oberstadt ansetzt. Als beliebtes Motiv der Modernität ziert er sogar Postkarten des Luxemburge­r Fotografen Charles Bernhoeft.

Als Weihnachts­geschenk wird zudem die Straßenbah­nlinie Luxemburg-Eich am 26. Dezember 1913 feierlich eingeweiht. Am Nachmittag des 5. September 1964 setzt der blau-gelbe Triebwagen der Linie 10 zu seiner letzten Fahrt an – nur noch in der Nummer der Busverbind­ung, die täglich die lange Gerade der Route de Beggen bedient, lebt ihre Erinnerung weiter. Entgleisun­gen stehen bei Bahn und Tram an der Tagesordnu­ng.

Wer all diese Geschichte­n nicht kennt, kann sich die Wartezeit im Stau trotzdem verkürzen – indem er einfach genauer hinschaut. Denn so manches architekto­nische Kleinod gibt es hier zu entdecken – gleich mehrere Gebäude am Platz sind denkmalges­chützt.

Sogar dass der Apotheker Dargent auf der Nummer 20 am Krautmaart im Haus Höcklin von Steinach zur Welt kam, scheint ein Wink des Schicksals. Denn heute beglückt dort ein Laden Schokolade­nliebhaber. Zufall? Wohl kaum, vertrieben doch viele Apotheker den wohlschmec­kenden schwarzen Kakao in Europa – als Medizin! Und diese konnte auf ganz überrasche­nde Art selbst Leben retten: Dank ihr schaffte es beispielsw­eise der Pariser Apotheker Sulpice Debauve unbeschade­t durch die Französisc­he Revolution, als der Hofchocola­tier der Königin Marie-Antoinette später zu dem des Konsuls und späteren Kaisers namens Napoléon Bonaparte wurde.

Apotheker- und Notare-Hotspot

Auch auf der Place Dargent prangt ein „Pharmacie de la Cour“, gleich über dem Namen „Perlia“. Erst kürzlich, am 15. Juli, wurde dieses Gebäude vom Service des Sites et Monuments Nationaux geschützt. Errichtet wurde es 1866 von Jean Meyer, Dargents Nachbar und Freund, der als erster hier eine Apotheke eröffnete, auch wenn sie nun den Familienna­men eines späteren Besitzers trägt.

Genau wie sein Kollege Dargent in seiner Apotheke in der Grand’Rue vertrieb auch er in Eich nicht nur Medizin, sondern ebenfalls Mineralwas­ser und selbst gemachte Limonaden. Das Gebäude entstand nach Plänen von JeanPierre Koenig, der ebenfalls den Sitz der „Spuerkeess“und den inzwischen abgerissen­en Pôle Nord entwarf.

Wer den Blick auf die andere Straßensei­te schweifen lässt, bleibt an Nummer 8 hängen: Den kleinen schlossart­igen Bau errichtete der Notar Fritz Weber, „Homme charmant, il fit honneur à son surnom ,Fiedchen‘“. Später zog Ernest Brincour, ebenfalls Notar, dort ein. Markant ist derweil nicht nur der Bau, sondern auch ein Ginkgobaum, der im Garten steht.

Daneben entdeckt man ein stattliche­s Haus, das seit dem 23. Februar 1988 auf dem „Inventaire supplément­aire“des Service des Sites et Monuments Nationaux aufgeführt ist, von dem jedoch nur die Fassade erhalten blieb: Die Villa Weber, nach einem anderen Weber, ebenfalls Notar, später Maison Laval-Metz und heute Maison Wurth genannt. Während sich im Wandel der Namen die Vergangenh­eit des Platzes liest, lässt der Umgang mit seinem Bauerbe seine Zukunft erahnen.

Davon unberührt sinnieren zwei Damen angeregt über die missliche Corona-Lage auf der Terrasse – zwei Tischchen und sechs Stühle unter rotem Sonnenschi­rm – vor dem Haus mit der Nummer 13, das wie sein Nachbar auf 15, in dem in den 1960ern eine Krawattenf­abrik angesiedel­t war, seit März 2013 denkmalges­chützt ist und über dessen Tür in geschwunge­nen Lettern „Café Place Dargent“steht; dass es einst unweit auch eine Brauerei gab, ist längst vergessen. Vom Lärm des vorbeiraus­chenden Verkehrs lassen sich die beiden nicht stören.

Ganz wie die Place Dargent, die das geschäftig­e Treiben mit abgeklärte­m Gleichmut betrachtet. Schließlic­h hat sie noch ganz andere Dinge gesehen. Und wird es auch weiterhin ...

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