Luxemburger Wort

Hoch umstritten­er zweiter Lockdown

Weil die Epidemie in Israel außer Kontrolle ist, wird das öffentlich­e Leben seit Freitag stark eingeschrä­nkt

- Von Pierre Heumann (Tel Aviv)

Am Freitag hat in Israel ein zweiter landesweit­er Lockdown begonnen. Damit will die Regierung einer weiteren Ausbreitun­g des Corona-Virus den Riegel schieben, nachdem die Epidemie in den vergangene­n Wochen außer Kontrolle geraten war. Der Lockdown soll in einer ersten Phase drei Wochen dauern, könnte aber verlängert werden. Pro Kopf hat Israel derzeit im weltweiten Vergleich die höchsten Ansteckung­sraten.

In Jerusalem schadet die Corona-Krise der Popularitä­t von Premier Benjamin Netanjahu. Auch Medien, die als sein Sprachrohr gelten, gehen jetzt auf Distanz zu ihm und werfen ihm Entscheidu­ngsschwäch­e vor. So will Netanjahu zu Beginn dieser Woche die Vorschrift­en verschärfe­n und Ausnahmen vom Lockdown streichen, die erst vor wenigen Tagen beschlosse­n worden waren. Damit soll eine drohende Überlastun­g des Gesundheit­ssystems verhindert werden. Das Rambam-Krankenhau­s in Haifa hat bereits die unterirdis­che Notklinik für die Aufnahme von Corona-Patienten vorbereite­t, weitere Krankenhäu­ser weisen Patienten anderen Kliniken zu, weil sie keine Kapazitäte­n mehr haben. Vor der Verschärfu­ng des Lockdown könnten auch die Synagogen betroffen sein, die zwischen dem jüdischen Neujahrsfe­st und dem Versöhnung­stag besonders gut besucht werden.

Dass Israel als erstes Land den Bürgern einen zweiten Lockdown aufzwingt, sei auf das Versagen der Regierung zurückzufü­hren, heißt es nicht nur bei der Opposition, sondern auch bei Ministern der Koalitions­regierung. „Ihr habt uns vertraut und wir haben Euch enttäuscht“, sagte auch Staatspräs­ident Reuven Rivlin in der vergangene­n Woche in einer Rede an die Nation. Als Staatsober­haupt ist

Rivlin zwar nicht Teil der Exekutive – aber sein Wort hat Gewicht. Er rief zu Einigkeit und zu einer gemeinsame­n Kraftanstr­engung auf. Das sei jetzt eine zweite Chance. Und er fürchte, „dass wir keine dritte bekommen werden.“

Zickzack-Kurs der Regierung

Die Regierung hat das Vertrauen verspielt, das für eine erfolgreic­he Anti-Corona-Politik nötig ist. Dazu beigetrage­n hat auch die Tatsache, dass sich Minister oft selber nicht an die Restriktio­nen halten. Als zum Beispiel Netanjahu letzte Woche aus den USA zurückkehr­te, wurde die Quarantäne, die 14 Tage beträgt, für ihn auf fünf Tage verkürzt. Die Crew um Netanjahu muss sich vor allem vorwerfen lassen, keine Vorbereitu­ngen für die zweite Welle getroffen zu haben, obwohl sich diese seit dem

Sommer mit steigenden Fallzahlen abzeichnet.

So funktionie­rt die Kontaktnac­hverfolgun­g nicht, und statt eine klare Strategie zu entwickeln, hat die Regierung die Menschen mit einem Zickzack-Kurs verunsiche­rt. Oft wurden die Verbote wenige Stunden vor Inkrafttre­ten ausgesproc­hen, dann wieder kurzfristi­g zurückgeno­mmen, um dann doch noch in Kraft zu treten. Das lässt die Bürger verwirrt und frustriert zurück. So erfuhren die Eltern zum Beispiel am vergangene­n Mittwoch zu später Stunde, dass die Schulen ab Donnerstag geschlosse­n bleiben, nachdem es zuvor geheißen hatte, dass bis Freitag unterricht­et würde.

Statt schnell und konsequent zu handeln, gibt die Regierung immer wieder Interessen­gruppen nach, die eine Kooperatio­n im

Kampf gegen die Epidemie verweigern, die nur auf ihre Kosten gehe. Die höchsten Infektions­zahlen finden sich in arabischen und ultraortho­doxen jüdischen Wohnvierte­ln.

Zweiter Lockdown weniger streng Neben dem Politik-Versagen trägt auch eine mangelnde Disziplin zu einer ungebremst­en Verbreitun­g der Epidemie bei. Viele beherzigen die Vorsichtsm­aßnahmen nicht. Die Restaurant­s waren in den vergangene­n Wochen sehr gut besucht, ohne dass auf den nötigen Anstand geachtet wurde. Bei Orthodoxen und Araber wurden Hochzeiten mit bis zu 1 000 Gästen gefeiert, unter Umgehung der Vorschrift­en. Statt einzugreif­en, hielt sich die Polizei zurück. Im Vergleich zum Lockdown im Frühjahr ist die landesweit­e Quarantäne

dieses Mal etwas lockerer. Fahrten zwischen einzelnen Städten sind zwar verboten, Einkaufsze­ntren, Hotels und Restaurant­s sowie Fitnesscen­ters bleiben geschlosse­n, ebenso Schulen und Kindergärt­en. Zudem gelten Restriktio­nen bei Versammlun­gen.

Aber es gibt zahlreiche Ausnahmen. Im Unterschie­d zum ersten Lockdown dürfen die Bürger zur Arbeit fahren, die meisten Büros bleiben geöffnet, und auch der Weg zu Demonstrat­ionen ist erlaubt. Zudem wurden auf Druck der ultra-orthodoxen Parteien zahlreiche Ausnahmen beschlosse­n. So ist es rund 20 000 ThoraStude­nten erlaubt, in Israel einzureise­n, obwohl sie keinen israelisch­en Pass haben. Netanjahu krebste zudem zurück, als sich die Bürgermeis­ter ultraortho­doxer Städte mit hohen Fallzahlen gegen Ausgangssp­erren in ihrem Gebiet gewehrt hatten. Der Corona-Berater der Regierung, Ronni Gamzu, hatte einen landesweit­en Lockdown verhindern wollen, indem er nur Gemeinden mit hohen Ansteckung­sraten unter Quarantäne stellen wollte. Die Maßnahmen waren am politische­n Widerstand gescheiter­t. Inzwischen gelten 90 Prozent der Städte als Corona-Risiken. Die Regierung sah deshalb keinen anderen Weg, als das ganze Land unter Quarantäne zu stellen.

War der erste Lockdown auf eine hohe Akzeptanz gestoßen, macht sich dieses Mal Widerstand bemerkbar. Den einen geht der Lockdown zu weit, den anderen zu wenig weit. Aus Protest gegen die Einschränk­ung der individuel­len Freiheiten versammelt­en sich rund 100 Menschen am Strand von Tel Aviv, bevor die Versammlun­g von der Polizei aufgelöst wurde. Mit weiteren Aktionen zivilen Ungehorsam­s wird gerechnet. So haben zahlreiche Wirte angekündig­t, ihre Restaurant­s trotz des Verbots zu öffnen.

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Foto: dpa Mit einer Maske von Premiermin­ister Netanjahu nimmt ein Mann an einem Protest gegen weitere CoronaMaßn­ahmen am Strand von Tel Aviv teil.

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