Der ungeliebte Präsident
Emmanuel Macron kann die Franzosen auch in der Corona-krise nicht für sich gewinnen
Emmanuel Macron bedient sich gerne bei historischen Vorbildern. Zum Beispiel bei Georges Clemenceau, dem „Vater des Sieges“gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg. Die Bilder des Regierungschefs, der mit Hut, Gamaschen und Spazierstock in die Schützengräben stieg, kennt in Frankreich jedes Schulkind. Ähnlich wie Clemenceau wollte auch Macron in der Corona-krise an die Front – zu jenen, die den Kampf gegen das Virus führen. „Wir sind im Krieg“, verkündete der Präsident in einer Fernsehansprache martialisch. Doch bei seinem Besuch im Pariser Krankenhaus La Pitié Salpêtrière erntete er nicht wie Clemenceau Bewunderung, sondern heftige Vorwürfe: „Wir haben kein Material. Wir sind verzweifelt und glauben nicht mehr an Sie“, sagte eine Krankenschwester dem Staatschef, der nur auf seine Gesundheitsstrategie für das Jahr 2022 verwies.
Die Frau ist mit ihrer Meinung nicht allein: Rund 60 Prozent der Franzosen trauen dem 42-Jährigen nicht zu, mit der Krise fertig zu werden. Schon seit zwei Jahren sinken die Umfragewerte des Präsidenten, der 2017 mit gut 66 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt worden war. Als Hoffnungsträger, der den Mut hatte, die schon lange nötigen Reformen anzupacken, wurde er damals gefeiert. Doch inzwischen ist der Glanz verblasst. Nicht einmal die Corona-krise, die die Beliebtheit von Regierungschefs wie Angela Merkel oder Giuseppe Conte in die Höhe schnellen ließ, verhalf dem Staatschef zu mehr Popularität: Bei 39 Prozent lag die Zustimmung Ende Mai.
Kleine Sätze nagen am Ruf
Es sind kleine Sätze, die am Ruf Macrons nagen; etwa dessen herabwürdigenden Bemerkungen über sozial Benachteiligte. Zusammen mit der Abschaffung der Vermögenssteuer haben sie ihn zum „Präsidenten der Reichen“werden lassen. Einem Arbeitslosen riet Macron, er müsse nur die Straße überqueren, um einen Job zu finden. „Verrückt viel Kohle“nannte der Absolvent mehrerer Eliteschulen die Sozialhilfe, die für Millionen Menschen zum Überleben notwendig ist. „Diese kleinen Sätze haben entscheidend zum Image der Arroganz beigetragen“, sagt Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Das ist etwas, was die Franzosen nicht verzeihen.“Mit seinen Einserabschlüssen, seinem kometenhaften Aufstieg und seiner smarten Erscheinung setzt sich der frühere Wirtschaftsminister weit von seinen Landsleuten ab. Die hatten sich zwar nach François Hollande einen charismatischeren Präsidenten gewünscht, aber keinen, der sich wie Macron mit Jupiter vergleicht.
Zur arroganten Art kommen Schwierigkeiten, den Franzosen seine Politik zu vermitteln. Das wurde bei der Rentenreform deutlich, die er im vergangenen Jahr als größtes Reformprojekt anging. Macron wollte das komplizierte
Rentensystem aus 42 Kassen vereinheitlichen und alte Privilegien abschaffen. Sein Vorhaben sorge für mehr Gleichheit bei der Rente und damit für mehr soziale Gerechtigkeit, warb er. Seine Landsleute standen dem anfangs durchaus positiv gegenüber.
Heraus kam allerdings ein schnell zusammengezimmerter Gesetzentwurf, der bei der Rente diejenigen benachteiligt, die ohnehin schlecht bezahlt sind: Lehrer und Krankenschwestern. „Es gibt einen Widerspruch zwischen der Rhetorik des Präsidenten und der Realität der Gesellschaft, in der die soziale Ungerechtigkeit kaum weniger wird“, kritisiert Bruno Cautrès vom politischen Forschungszentrum Cevipof. Hunderttausende zogen deshalb im Dezember durch Paris und andere Städte – mit Plakaten von Macron als Sonnenkönig Ludwig XIV. in der Hand.
Macron will sich „neu erfinden“Die Demonstrationen haben sich inzwischen erledigt, da die Rentenreform wie alle anderen Reformen
durch die Pandemie mit ihren mehr als 29 000 Toten in Frankreich erst einmal auf Eis gelegt ist. Dass sie tatsächlich bis zu den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren noch umgesetzt wird, glaubt kaum jemand. Macron selbst sieht das Virus als Zäsur in der Geschichte des Landes. „Die Tage danach werden nicht so aussehen wie die Tage davor“, sagte er. Die Franzosen müssten sich „neu erfinden“und er selbst auch. Der wirtschaftsliberale Kurs der ersten drei Jahre solle nun durch eine sozialere Politik abgelöst werden, heißt es aus seiner Partei. Außerdem solle der Umweltschutz mehr Gewicht bekommen. Macrons Kommunikationsberater sprechen wie im Theater von einem neuen „Akt“seiner Amtszeit. Doch diese dick aufgetragenen Ankündigungen kommen nicht gut an. „Diese übertriebene Kommunikation hat dazu beigetragen, dass die Bevölkerung nicht mehr weiß, wo Macron steht und wo er hinwill“, bemerkt Cautrès.
Der Staatschef selbst scheint zwischen zu viel und zu wenig Kommunikation zu schwanken. Während er auf dem Höhepunkt der Corona-pandemie gleich drei Fernsehansprachen hielt, blieb er in der Krise der „Gelbwesten“dagegen wochenlang stumm. Die Regierung habe nicht die Absicht, ihren Kurs zu ändern, ließ er seinen Regierungssprecher verkünden, nachdem Tausende in neongelben Warnwesten die Pariser Champs-elysées und den Triumphbogen verwüstet hatten.
Erst mehr als drei Wochen nach Beginn der Proteste wandte sich Macron an sein Volk. Er machte nicht nur milliardenschwere Zugeständnisse, sondern zeigte sich auch bereit, in einen Dialog mit seinen Landsleuten zu treten. Statt sie von oben herab zu kritisieren, begann er ihnen zuzuhören. Hemdsärmelig saß er wochenlang in Gemeindesälen und diskutierte über medizinische Versorgung und Radaranlagen. Wie ein Arzt diagnostizierte er gewissenhaft die Krankheit seines Landes. Doch als der „grand débat“endete, wurde Emmanuel Macron wieder zum abgehobenen Technokraten im Elysée-palast. Die Beschwerdehefte der Bürger lagern inzwischen in der staatlichen Bibliothek, konkrete Folgen hatten sie bisher nicht. Im Nachhinein wirkt die Diskussionsveranstaltung wie eine kurze Annäherung in einer abgenutzten Beziehung. In der Corona-krise wollte der Präsident noch einmal an jene Episode anknüpfen und suchte in Krankenhäusern, Schulen und Maskenfabriken das Gespräch. Auf die Wut der Menschen fand er aber keine Antwort. „Ich tue mein Bestes“, sagte er der Krankenschwester in der Pariser Pitié Salpêtrière. Es hörte sich eher hilflos an.
Corona hat die große Rentenreform wohl bis zur Wahl gestoppt.