„Die Wunde bleibt für immer“
Ruth Westheimer über den Verlust ihrer Eltern, den Kampf für das Land Israel und ihr Leben mit 91 Jahren
Ruth Westheimer wurde 1928 in Deutschland geboren. Ihre jüdischen Eltern schickten sie 1938 mit einem Sonderzug in die Schweiz, sie selbst starben in Auschwitz. Nach dem Krieg wurde sie zunächst Scharfschützin, um den jungen Staat Israel zu verteidigen, und schließlich in New York mit ihrem unverkennbaren hessischen Akzent zur wohl bekanntesten Sexualtherapeutin der Welt. Im Interview blickt die nur 1,45 Meter große Ruth Westheimer auf die wohl schwierigste Zeit in ihrem Leben zurück.
Ruth Westheimer, lassen Sie uns bitte über das zweite Thema sprechen, das neben Sex Ihr Leben bestimmt hat: den Holocaust. Ihre Eltern starben in Ausschwitz.
Und wäre ich 1938 nicht mit einem Kindertransport von Deutschland in die Schweiz gekommen, wäre ich jetzt auch tot. Deshalb habe ich eine Verpflichtung, darüber zu sprechen, wie dankbar ich der Schweiz bin. Mir ist es sehr wichtig, dass auch nachfolgende Generationen über den Holocaust Bescheid wissen. Darum habe ich für Schüler das Buch „Roller-coaster Grandma“geschrieben. Darin spreche ich zwar nicht direkt über Ausschwitz, aber sehr wohl darüber, dass mein Vater von den Nazis geholt worden ist. Jetzt soll dieses Buch von Steven Spielbergs Shoa Foundation animiert und an Junior Highschools in Amerika und Kanada gezeigt werden. Das freut mich sehr. So soll über den Holocaust gelehrt werden, ohne Angst zu machen. Der Film soll klarmachen, dass man Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Egal, ob sie Juden, Homosexuelle oder Zigeuner (sic) sind.
Sie sind ein Einzelkind. Nicht nur Ihre Eltern, auch die meisten Ihrer Familienmitglieder haben den Holocaust nicht überlebt. Hat Hitler gewonnen?
Nein! Hitler ist tot, und meine vier Enkel sind fantastisch.
Wie hat der frühe Verlust
Ihrer Eltern Ihr Leben geprägt?
So ein Trauma kann man nicht überwinden. Die Wunde bleibt für immer. Das muss man akzeptieren. Ich habe alle meine Bücher meinen Eltern und meiner Großmutter gewidmet. Ich habe viele Puppenhäuser. Ich gucke sie gerne an. Ich kann Vater, Mutter und Kinder zusammen in ein Zimmer setzten. Bei Puppenhäusern habe ich alles unter Kontrolle. Über mein eigenes frühes Leben hatte ich keine Kontrolle. Aber, dass ich später als Sexualtherapeuten so vielen Menschen helfen konnte, zeigt mir, dass es wunderbar und richtig war, dass ich überlebt habe.
Nach Ende des Krieges sind Sie als 17-Jährige nach Palästina gegangen und haben sich der Hagana, einer paramilitärischen Untergrundgruppe, angeschlossen.
1948 hat sich fast jeder junge Jude, der damals in Palästina war, irgendeiner militärischen Gruppe angeschlossen, um den jungen
Staat Israel zu verteidigen. Ich wurde zur Scharfschützin ausgebildet. Und Du musst aufpassen: Ich kann immer noch eine Sten Gun (Maschinenpistole, die damals von der Hagana verwendet wurde, Anm. d. Red.) zusammenbauen, Handgranaten werfen und schießen. Ich war eine sehr gute Scharfschützin. Also, pass auf, was Du mich fragst!
Stimmt es, dass Sie beim Schießtraining an Hitler gedacht haben?
Das habe ich irgendwann mal gesagt. Ich weiß nicht mehr, ob es stimmt. Aber es war auf jeden Fall ein guter Satz.
Haben Sie getötet?
Nein, ich habe niemanden getötet, und darüber bin ich heute sehr froh. Aber ich hätte töten können und wäre dazu bereit gewesen, um mein Leben und den jungen Staat Israel zu verteidigen.
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom-kippur-feiertag im letzten Jahr und Überfälle auf Juden in New York: In letzter Zeit nehmen antisemitische Verbrechen wieder zu.
Ja, das ist schlimm! Ich hätte nie gedacht, dass das noch einmal passieren würde. Deshalb engagiere ich mich seit langer Zeit am Museum für Jüdisches Kulturerbe in New York. Ich habe dort sehr für die aktuelle Ausschwitz-ausstellung gekämpft, denn sie ist wie ein Grab für meine Eltern.
Trotz des Holocausts haben Sie im Jahr 2014 wieder die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen.
Das ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich habe kein Problem mit Deutschen, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehmen. Ich werde Dich aber nicht fragen, was Deine Großväter während des Krieges gemacht haben. Adenauer hingegen bin ich sehr dankbar. Er hat viel Geld nach Palästina geschickt. Zudem sehe ich jedes Jahr junge deutsche Männer und Frauen, die einen Sommer oder ein ganzes Jahr in israelischen Altenheimen arbeiten. Das freut mich sehr! Sie wollen etwas zur Wiedergutmachung tun. Dass ich die Staatsbürgerschaft wieder angenommen habe, hat auch pragmatische Gründe. Meine Kinder und meine Enkelkinder – die zwar alle kein Deutsch können – sollen die Möglichkeit haben, in Deutschland arbeiten und studieren zu können. Die Welt soll für sie offen sein. Da kann es nicht schaden, dass ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe.
Sind Sie noch regelmäßig in Deutschland?
Ich bin früher fast jedes Jahr bei der Buchmesse in Frankfurt gewesen. Jetzt muss ich da nicht mehr hin. Die Verleger kommen mittlerweile zu mir. (lacht) Aber ich werde sicher noch mal nach Deutschland reisen.
Sie haben sich in Ihrer Karriere nie über Politik geäußert, bis Präsident Trump an der amerikanischmexikanischen Grenze Flüchtlingskinder von ihren Familien trennen ließ ...
Ja, da musste ich etwas sagen. Denn es macht mich sehr traurig, wenn ich sehe, dass Eltern von ihren Kindern getrennt werden. Das ist meine eigene Geschichte. Das habe ich selbst erlebt. Das darf sich nicht wiederholen.
Sie waren Scharfschützin, Kindergärtnerin, haben Psychologie an der Sorbonne studiert, in Soziologie in New York promoviert, wurden die vielleicht bekannteste Sexualtherapeutin der Welt und haben nie aufgehört zu lernen und sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Ist das nicht wahnsinnig anstrengend?
Nein! Quatsch! Für mich wäre es anstrengend gewesen, immer dasselbe zu tun. Meine Karriere war auf der ganzen Welt nur in New York möglich, denn New Yorker sind sehr großzügig, wenn es um Akzente geht. Ich habe nie Unterricht genommen, um meinen Akzent zu verlieren.
Ihre Karriere im amerikanischen Radio und Fernsehen haben Sie möglicherweise nicht trotz, sondern wegen Ihres unverkennbaren hessischen Akzentes gemacht.
Er hat zumindest nicht geschadet. Sobald man das Radio anschaltete, wusste man sofort, dass ich es bin.
Sie werden im Juni 92 Jahre alt. Wie sieht mittlerweile Ihr normaler Tagesablauf aus?
Ich stehe um 10 Uhr auf. Vorher darf mich niemand anrufen. Tagsüber bin ich sehr beschäftigt. Ich gebe immer noch Vorlesungen, halte Vorträge, schreibe Bücher und gebe Interviews. Vielleicht bin ich ein Workaholic. Aber ich habe auch viel Zeit für meine Kinder und meine Enkelkinder. Ich habe das große Glück, ein sehr harmonisches Familienleben zu haben. Außerdem kommt zwei Mal in der Woche meine wunderbare Haushälterin. Ein junger Mann macht seit Jahren alle meine Bank- und Computersachen. Das ist alles, was ich an Hilfe brauche.
Mir ist es sehr wichtig, dass auch nachfolgende Generationen über den Holocaust Bescheid wissen.
Ich hätte töten können und wäre dazu bereit gewesen, um mein Leben und den jungen Staat Israel zu verteidigen.
Und abends?
Ich gehe viel aus. Zum Glück habe ich genug Geld, um mir stets ein Uber leisten zu können, das mich abholt und wieder nach Hause bringt.
Wie alt fühlen Sie sich?
Vielleicht wie 50.
Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken?
Große Dankbarkeit, dass ich am Leben bin. Ich würde alles wieder genauso machen.
Wären Ihre Eltern stolz auf Sie?
Ich weiß nicht, ob sie stolz darauf wären, dass ich so viel über Sex rede. Vielleicht müsste ich ihnen erst erklären, dass es in der jüdischen Tradition keine Sünde ist, über Sex zu sprechen.