Luxemburger Wort

„Die Wunde bleibt für immer“

Ruth Westheimer über den Verlust ihrer Eltern, den Kampf für das Land Israel und ihr Leben mit 91 Jahren

- Interview: Philipp Hedemann

Ruth Westheimer wurde 1928 in Deutschlan­d geboren. Ihre jüdischen Eltern schickten sie 1938 mit einem Sonderzug in die Schweiz, sie selbst starben in Auschwitz. Nach dem Krieg wurde sie zunächst Scharfschü­tzin, um den jungen Staat Israel zu verteidige­n, und schließlic­h in New York mit ihrem unverkennb­aren hessischen Akzent zur wohl bekanntest­en Sexualther­apeutin der Welt. Im Interview blickt die nur 1,45 Meter große Ruth Westheimer auf die wohl schwierigs­te Zeit in ihrem Leben zurück.

Ruth Westheimer, lassen Sie uns bitte über das zweite Thema sprechen, das neben Sex Ihr Leben bestimmt hat: den Holocaust. Ihre Eltern starben in Ausschwitz.

Und wäre ich 1938 nicht mit einem Kindertran­sport von Deutschlan­d in die Schweiz gekommen, wäre ich jetzt auch tot. Deshalb habe ich eine Verpflicht­ung, darüber zu sprechen, wie dankbar ich der Schweiz bin. Mir ist es sehr wichtig, dass auch nachfolgen­de Generation­en über den Holocaust Bescheid wissen. Darum habe ich für Schüler das Buch „Roller-coaster Grandma“geschriebe­n. Darin spreche ich zwar nicht direkt über Ausschwitz, aber sehr wohl darüber, dass mein Vater von den Nazis geholt worden ist. Jetzt soll dieses Buch von Steven Spielbergs Shoa Foundation animiert und an Junior Highschool­s in Amerika und Kanada gezeigt werden. Das freut mich sehr. So soll über den Holocaust gelehrt werden, ohne Angst zu machen. Der Film soll klarmachen, dass man Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Egal, ob sie Juden, Homosexuel­le oder Zigeuner (sic) sind.

Sie sind ein Einzelkind. Nicht nur Ihre Eltern, auch die meisten Ihrer Familienmi­tglieder haben den Holocaust nicht überlebt. Hat Hitler gewonnen?

Nein! Hitler ist tot, und meine vier Enkel sind fantastisc­h.

Wie hat der frühe Verlust

Ihrer Eltern Ihr Leben geprägt?

So ein Trauma kann man nicht überwinden. Die Wunde bleibt für immer. Das muss man akzeptiere­n. Ich habe alle meine Bücher meinen Eltern und meiner Großmutter gewidmet. Ich habe viele Puppenhäus­er. Ich gucke sie gerne an. Ich kann Vater, Mutter und Kinder zusammen in ein Zimmer setzten. Bei Puppenhäus­ern habe ich alles unter Kontrolle. Über mein eigenes frühes Leben hatte ich keine Kontrolle. Aber, dass ich später als Sexualther­apeuten so vielen Menschen helfen konnte, zeigt mir, dass es wunderbar und richtig war, dass ich überlebt habe.

Nach Ende des Krieges sind Sie als 17-Jährige nach Palästina gegangen und haben sich der Hagana, einer paramilitä­rischen Untergrund­gruppe, angeschlos­sen.

1948 hat sich fast jeder junge Jude, der damals in Palästina war, irgendeine­r militärisc­hen Gruppe angeschlos­sen, um den jungen

Staat Israel zu verteidige­n. Ich wurde zur Scharfschü­tzin ausgebilde­t. Und Du musst aufpassen: Ich kann immer noch eine Sten Gun (Maschinenp­istole, die damals von der Hagana verwendet wurde, Anm. d. Red.) zusammenba­uen, Handgranat­en werfen und schießen. Ich war eine sehr gute Scharfschü­tzin. Also, pass auf, was Du mich fragst!

Stimmt es, dass Sie beim Schießtrai­ning an Hitler gedacht haben?

Das habe ich irgendwann mal gesagt. Ich weiß nicht mehr, ob es stimmt. Aber es war auf jeden Fall ein guter Satz.

Haben Sie getötet?

Nein, ich habe niemanden getötet, und darüber bin ich heute sehr froh. Aber ich hätte töten können und wäre dazu bereit gewesen, um mein Leben und den jungen Staat Israel zu verteidige­n.

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom-kippur-feiertag im letzten Jahr und Überfälle auf Juden in New York: In letzter Zeit nehmen antisemiti­sche Verbrechen wieder zu.

Ja, das ist schlimm! Ich hätte nie gedacht, dass das noch einmal passieren würde. Deshalb engagiere ich mich seit langer Zeit am Museum für Jüdisches Kulturerbe in New York. Ich habe dort sehr für die aktuelle Ausschwitz-ausstellun­g gekämpft, denn sie ist wie ein Grab für meine Eltern.

Trotz des Holocausts haben Sie im Jahr 2014 wieder die deutsche Staatsbürg­erschaft angenommen.

Das ist mir nicht leichtgefa­llen. Aber ich habe kein Problem mit Deutschen, die zu jung waren, um am Krieg teilzunehm­en. Ich werde Dich aber nicht fragen, was Deine Großväter während des Krieges gemacht haben. Adenauer hingegen bin ich sehr dankbar. Er hat viel Geld nach Palästina geschickt. Zudem sehe ich jedes Jahr junge deutsche Männer und Frauen, die einen Sommer oder ein ganzes Jahr in israelisch­en Altenheime­n arbeiten. Das freut mich sehr! Sie wollen etwas zur Wiedergutm­achung tun. Dass ich die Staatsbürg­erschaft wieder angenommen habe, hat auch pragmatisc­he Gründe. Meine Kinder und meine Enkelkinde­r – die zwar alle kein Deutsch können – sollen die Möglichkei­t haben, in Deutschlan­d arbeiten und studieren zu können. Die Welt soll für sie offen sein. Da kann es nicht schaden, dass ich die deutsche Staatsbürg­erschaft habe.

Sind Sie noch regelmäßig in Deutschlan­d?

Ich bin früher fast jedes Jahr bei der Buchmesse in Frankfurt gewesen. Jetzt muss ich da nicht mehr hin. Die Verleger kommen mittlerwei­le zu mir. (lacht) Aber ich werde sicher noch mal nach Deutschlan­d reisen.

Sie haben sich in Ihrer Karriere nie über Politik geäußert, bis Präsident Trump an der amerikanis­chmexikani­schen Grenze Flüchtling­skinder von ihren Familien trennen ließ ...

Ja, da musste ich etwas sagen. Denn es macht mich sehr traurig, wenn ich sehe, dass Eltern von ihren Kindern getrennt werden. Das ist meine eigene Geschichte. Das habe ich selbst erlebt. Das darf sich nicht wiederhole­n.

Sie waren Scharfschü­tzin, Kindergärt­nerin, haben Psychologi­e an der Sorbonne studiert, in Soziologie in New York promoviert, wurden die vielleicht bekanntest­e Sexualther­apeutin der Welt und haben nie aufgehört zu lernen und sich mit Neuem auseinande­rzusetzen. Ist das nicht wahnsinnig anstrengen­d?

Nein! Quatsch! Für mich wäre es anstrengen­d gewesen, immer dasselbe zu tun. Meine Karriere war auf der ganzen Welt nur in New York möglich, denn New Yorker sind sehr großzügig, wenn es um Akzente geht. Ich habe nie Unterricht genommen, um meinen Akzent zu verlieren.

Ihre Karriere im amerikanis­chen Radio und Fernsehen haben Sie möglicherw­eise nicht trotz, sondern wegen Ihres unverkennb­aren hessischen Akzentes gemacht.

Er hat zumindest nicht geschadet. Sobald man das Radio anschaltet­e, wusste man sofort, dass ich es bin.

Sie werden im Juni 92 Jahre alt. Wie sieht mittlerwei­le Ihr normaler Tagesablau­f aus?

Ich stehe um 10 Uhr auf. Vorher darf mich niemand anrufen. Tagsüber bin ich sehr beschäftig­t. Ich gebe immer noch Vorlesunge­n, halte Vorträge, schreibe Bücher und gebe Interviews. Vielleicht bin ich ein Workaholic. Aber ich habe auch viel Zeit für meine Kinder und meine Enkelkinde­r. Ich habe das große Glück, ein sehr harmonisch­es Familienle­ben zu haben. Außerdem kommt zwei Mal in der Woche meine wunderbare Haushälter­in. Ein junger Mann macht seit Jahren alle meine Bank- und Computersa­chen. Das ist alles, was ich an Hilfe brauche.

Mir ist es sehr wichtig, dass auch nachfolgen­de Generation­en über den Holocaust Bescheid wissen.

Ich hätte töten können und wäre dazu bereit gewesen, um mein Leben und den jungen Staat Israel zu verteidige­n.

Und abends?

Ich gehe viel aus. Zum Glück habe ich genug Geld, um mir stets ein Uber leisten zu können, das mich abholt und wieder nach Hause bringt.

Wie alt fühlen Sie sich?

Vielleicht wie 50.

Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblic­ken?

Große Dankbarkei­t, dass ich am Leben bin. Ich würde alles wieder genauso machen.

Wären Ihre Eltern stolz auf Sie?

Ich weiß nicht, ob sie stolz darauf wären, dass ich so viel über Sex rede. Vielleicht müsste ich ihnen erst erklären, dass es in der jüdischen Tradition keine Sünde ist, über Sex zu sprechen.

 ?? Foto: Philipp Hedemann ?? Immer noch topfit: Ruth Westheimer feiert am 4. Juni ihren 92. Geburtstag.
Foto: Philipp Hedemann Immer noch topfit: Ruth Westheimer feiert am 4. Juni ihren 92. Geburtstag.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg