Heimat auf Zeit
Die Krimtataren in Kiew: zwischen Traditionalismus und Punkrock
Es ist kalt an diesem Dienstagmorgen. Der Wind pfeift über die Povitroflotsky-straße. Vor der russischen Botschaft stehen ein paar Kleinbusse. In manchen wärmen sich Journalisten, in anderen Nationalgardisten. Ein Wagen fährt vor, Personen steigen aus, tauschen Dokumente mit den Polizisten vor der Botschaft aus, Hände werden geschüttelt, Transparente enthüllt, Poster am Zaun der Botschaft angebracht. Weitere Leute kommen, die Journalisten steigen aus, die Nationalgardisten ebenso. Dann geht es los. Ein eingespielter Ablauf.
Jeden Monat demonstrieren Krimtatarische Aktivisten vor der russischen Botschaft in Kiew. Am Asphalt vor der diplomatischen Vertretung finden sich die Spuren der vorangegangener Kundgebungen: Reste von Farbbeuteln und auf die Straße gesprayte Botschaften hinter der mit Stacheldraht umzäunten Vertretung. Diesmal geht alles ruhig über die Bühne. Gerade einmal 20 Personen sind gekommen wenn es hoch her geht – allesamt Aktivisten. Darunter Ismail Ramazanov, ein stämmiger Mann Anfang 30 mit tiefen Furchen im Gesicht. Er hat sich einen feinen Mantel angezogen. Er ist der Star heute. Er nimmt das Mikrofon, hält eine Rede darüber, dass die Krim zur Ukraine gehöre. Seine Stimme bricht, er weiß was passieren wird. Da kommen Männer in Gesichtsmasken und zerren ihn in ein Auto – eine Aktion, alles nur gespielt. Diesmal.
Ein sechsmonatiges Martyrium
Später wird sich Ismail Ramazanow bei seinen Kidnappern lachend und seine Stirn reibend darüber beschweren, dass er sich den Kopf beim Einsteigen ins Auto angeschlagen habe. Der Kidnapper wird erklären, dass er halt keine Übung darin habe Leute festzunehmen, sich entschuldigen und Ramazanov dabei freundschaftlich auf die Schulter klopfen. Aufgekratzt wird er in der Menge umherwuseln, er wird Interviews geben, laut, impulsiv, mit sich leicht überschlagender Stimme. Und irgendwann später in einer ruhigen Minute wird ihn eine Mitstreiterin fragen, wie es ihm denn gehe. Und Ismail Ramazanow wird mit traurigen Augen sagen: Eh alles gut.
Es war im Januar 2018, als Ismail Ramazanow in seiner Wohnung nahe Simferopol auf der Krim von einem Sondereinsatzkommando festgenommen wurde. Da waren es keine Freunde in Sturmhauben, die ihn in ein Auto zerrten, sondern Fsb-leute. Extremismus warf man ihm vor. Es folgte ein sechsmonatiges Martyrium aus Verhören, Schlägen, Drohungen, Anhörungen vor Gericht und weiteren Verhören – und dann eine überraschende Freilassung aus Mangel an Beweisen. Schließlich schaffte er es vor knapp einem Jahr nach Kiew. Und da ist er jetzt. Arbeitet mal hier, mal da, der ehemalige Eisenbahner.
Die Annexion der Krim und das was danach kam haben Zehntausende
Krimtataren dazu bewogen, die Krim zu verlassen. Und Kiew ist heute so etwas wie das Zentrum der Tataren im Exil. Restaurants, Cafés, Läden haben sie gegründet, aber auch die politische Vertretung der Tataren, der Mejlis, ist heute im ukrainischen Exil in Kiew angesiedelt. Den russischen Behörden, die auf der Krim die Kontrolle haben, gilt die politische Vertretung der Tataren als extremistische Organisation.
Küche für ukrainische Massen
„Als Heimat auf Zeit“bezeichnet Aider Kiew. Aider ist Manager einer Filiale einer tatarischen Restaurantkette im Zentrum Kiews. Tatarische Küche für ukrainische Massen. Hier einen Platz zu ergattern, ist spontan kaum möglich. Seit sechs Jahren ist Aidar in Kiew. Erst dachte er, es werde nur einige Zeit dauern, dann heiratete er eine Ukrainerin, dann kam sein Sohn zur Welt. Und heute stellt sich ihm die Frage: Wird der denn ein Krimtatar sein? Ihm tatarische Traditionen zu vermitteln ist Aider wichtig. Auch die Sprache. Zugleich aber ist ihm klar, dass sein Sohn eben in Kiew und nicht auf der Krim aufwächst – in der Festlandukraine in einem slawisch orthodox dominierten Umfeld. Er und sein Sohn werden nicht dieselbe Heimat haben.
Es ist genau diese Gratwanderung, die die tatarische Gemeinschaft durchlebt. Wo fängt sie an die Isolation; wo beginnt sie, die Assimilation – und damit der Anfang vom Ende einer eigenen Identität, wie es Refat Chubarow sagt, Chef der Mejlis und damit höchster politischer Vertreter der Krimtataren. Die Antworten auf diese Frage sind aber so individuell wie Menschen eben sind. Da ist Inetwa Lemara, Sommersprossen, rote Haare, Tatarin von ganzem Herzen wie sie sagt. Eine aufgeweckte Mutter zweier Kinder Anfang 30, energiegeladen wie ein Wirbelwind, verheiratet mit einem Iraner, Visagistin im Modebusiness. Mit ihrem Mann spricht sie Englisch, mit ihren Kindern ihre Muttersprache Russisch, in der Schule werden die Kinder auf Ukrainisch unterrichtet. „Da muss man nicht noch Tatarisch dazulernen“, meint sie. Ein Kindervers, das ist alles was sie ihren Kindern auf Tatarisch
beibringt. Auf die Frage, als was sie sich denn fühle sagt sie: „Als Mensch.“Ihre Cousine Adel wiederum sieht die tatarische Sprache als den Kern der tatarischen Identität – ohne Sprache kein Tatarisch, ohne tatarisch keine Identität. Und für sie ist klar: Heiraten will sie einmal einen Tataren.
Sprache und Tanz
Samstagmorgen. Durch die Gänge einer Schule am Rande des Zentrums von Kiew hallt Kinderlachen. Es ist die Samstagschule der krimtatarischen Community. Sprachunterricht wird hier angeboten, Einheiten in Geschichte, Tanzstunden.
Bekir unterrichtet Geschichte – runde Nickelbrille, sauber frisiertes Haar, perfektes Englisch. Gerade einmal 20 Jahre ist er alt. Seine Klassen führt er mit Strenge – aber immer ebenso bestimmt wie respektvoll im Ton. Er fragt die Kinder, bezieht sie mit ein, lässt sie antworten, korrigiert, führt sie zur Antwort, die er hören will. Was denn das Osmanische Reich und das Russische Imperium quer durch die Geschichte unterscheide, fragt er die Kinder, allesamt gerade einmal acht Jahre alt. Er sammelt Antworten wie „Russland war immer ein Unterdrücker“, wie ein kleiner Junge sagt.
Ein Mädchen sagt, „die Osmanen haben uns geholfen, die anderen haben uns ermordet.“Bekir am Rand des Lehrertisches sitzend hebt die Brauen, deutet auf das Mädchen, steht auf und sagt schwungvoll: „Richtig“. Und er fügt hinzu: „Die Osmanen wollten immer nur die Turkvölker einen, das Russische Imperium wollte die Welt regieren und alle unterwerfen.“
Die Türkei unterstützt tatarische Aktivitäten in der Ukraine finanziell – das tat sie schon vor der Annexion der Krim. Als Bruderstaat und Schutzmacht bezeichnen Bekir, Ismail Ramazanow und viele andere die Türkei.
Die Türkei unterstützt tatarische Aktivitäten in der Ukraine finanziell – das tat sie schon vor der Annexion der Krim.