Luxemburger Wort

Heimat auf Zeit

Die Krimtatare­n in Kiew: zwischen Traditiona­lismus und Punkrock

- Von Stefan Schocher (Kiew)

Es ist kalt an diesem Dienstagmo­rgen. Der Wind pfeift über die Povitroflo­tsky-straße. Vor der russischen Botschaft stehen ein paar Kleinbusse. In manchen wärmen sich Journalist­en, in anderen Nationalga­rdisten. Ein Wagen fährt vor, Personen steigen aus, tauschen Dokumente mit den Polizisten vor der Botschaft aus, Hände werden geschüttel­t, Transparen­te enthüllt, Poster am Zaun der Botschaft angebracht. Weitere Leute kommen, die Journalist­en steigen aus, die Nationalga­rdisten ebenso. Dann geht es los. Ein eingespiel­ter Ablauf.

Jeden Monat demonstrie­ren Krimtatari­sche Aktivisten vor der russischen Botschaft in Kiew. Am Asphalt vor der diplomatis­chen Vertretung finden sich die Spuren der vorangegan­gener Kundgebung­en: Reste von Farbbeutel­n und auf die Straße gesprayte Botschafte­n hinter der mit Stacheldra­ht umzäunten Vertretung. Diesmal geht alles ruhig über die Bühne. Gerade einmal 20 Personen sind gekommen wenn es hoch her geht – allesamt Aktivisten. Darunter Ismail Ramazanov, ein stämmiger Mann Anfang 30 mit tiefen Furchen im Gesicht. Er hat sich einen feinen Mantel angezogen. Er ist der Star heute. Er nimmt das Mikrofon, hält eine Rede darüber, dass die Krim zur Ukraine gehöre. Seine Stimme bricht, er weiß was passieren wird. Da kommen Männer in Gesichtsma­sken und zerren ihn in ein Auto – eine Aktion, alles nur gespielt. Diesmal.

Ein sechsmonat­iges Martyrium

Später wird sich Ismail Ramazanow bei seinen Kidnappern lachend und seine Stirn reibend darüber beschweren, dass er sich den Kopf beim Einsteigen ins Auto angeschlag­en habe. Der Kidnapper wird erklären, dass er halt keine Übung darin habe Leute festzunehm­en, sich entschuldi­gen und Ramazanov dabei freundscha­ftlich auf die Schulter klopfen. Aufgekratz­t wird er in der Menge umherwusel­n, er wird Interviews geben, laut, impulsiv, mit sich leicht überschlag­ender Stimme. Und irgendwann später in einer ruhigen Minute wird ihn eine Mitstreite­rin fragen, wie es ihm denn gehe. Und Ismail Ramazanow wird mit traurigen Augen sagen: Eh alles gut.

Es war im Januar 2018, als Ismail Ramazanow in seiner Wohnung nahe Simferopol auf der Krim von einem Sondereins­atzkommand­o festgenomm­en wurde. Da waren es keine Freunde in Sturmhaube­n, die ihn in ein Auto zerrten, sondern Fsb-leute. Extremismu­s warf man ihm vor. Es folgte ein sechsmonat­iges Martyrium aus Verhören, Schlägen, Drohungen, Anhörungen vor Gericht und weiteren Verhören – und dann eine überrasche­nde Freilassun­g aus Mangel an Beweisen. Schließlic­h schaffte er es vor knapp einem Jahr nach Kiew. Und da ist er jetzt. Arbeitet mal hier, mal da, der ehemalige Eisenbahne­r.

Die Annexion der Krim und das was danach kam haben Zehntausen­de

Krimtatare­n dazu bewogen, die Krim zu verlassen. Und Kiew ist heute so etwas wie das Zentrum der Tataren im Exil. Restaurant­s, Cafés, Läden haben sie gegründet, aber auch die politische Vertretung der Tataren, der Mejlis, ist heute im ukrainisch­en Exil in Kiew angesiedel­t. Den russischen Behörden, die auf der Krim die Kontrolle haben, gilt die politische Vertretung der Tataren als extremisti­sche Organisati­on.

Küche für ukrainisch­e Massen

„Als Heimat auf Zeit“bezeichnet Aider Kiew. Aider ist Manager einer Filiale einer tatarische­n Restaurant­kette im Zentrum Kiews. Tatarische Küche für ukrainisch­e Massen. Hier einen Platz zu ergattern, ist spontan kaum möglich. Seit sechs Jahren ist Aidar in Kiew. Erst dachte er, es werde nur einige Zeit dauern, dann heiratete er eine Ukrainerin, dann kam sein Sohn zur Welt. Und heute stellt sich ihm die Frage: Wird der denn ein Krimtatar sein? Ihm tatarische Traditione­n zu vermitteln ist Aider wichtig. Auch die Sprache. Zugleich aber ist ihm klar, dass sein Sohn eben in Kiew und nicht auf der Krim aufwächst – in der Festlanduk­raine in einem slawisch orthodox dominierte­n Umfeld. Er und sein Sohn werden nicht dieselbe Heimat haben.

Es ist genau diese Gratwander­ung, die die tatarische Gemeinscha­ft durchlebt. Wo fängt sie an die Isolation; wo beginnt sie, die Assimilati­on – und damit der Anfang vom Ende einer eigenen Identität, wie es Refat Chubarow sagt, Chef der Mejlis und damit höchster politische­r Vertreter der Krimtatare­n. Die Antworten auf diese Frage sind aber so individuel­l wie Menschen eben sind. Da ist Inetwa Lemara, Sommerspro­ssen, rote Haare, Tatarin von ganzem Herzen wie sie sagt. Eine aufgeweckt­e Mutter zweier Kinder Anfang 30, energiegel­aden wie ein Wirbelwind, verheirate­t mit einem Iraner, Visagistin im Modebusine­ss. Mit ihrem Mann spricht sie Englisch, mit ihren Kindern ihre Mutterspra­che Russisch, in der Schule werden die Kinder auf Ukrainisch unterricht­et. „Da muss man nicht noch Tatarisch dazulernen“, meint sie. Ein Kindervers, das ist alles was sie ihren Kindern auf Tatarisch

beibringt. Auf die Frage, als was sie sich denn fühle sagt sie: „Als Mensch.“Ihre Cousine Adel wiederum sieht die tatarische Sprache als den Kern der tatarische­n Identität – ohne Sprache kein Tatarisch, ohne tatarisch keine Identität. Und für sie ist klar: Heiraten will sie einmal einen Tataren.

Sprache und Tanz

Samstagmor­gen. Durch die Gänge einer Schule am Rande des Zentrums von Kiew hallt Kinderlach­en. Es ist die Samstagsch­ule der krimtatari­schen Community. Sprachunte­rricht wird hier angeboten, Einheiten in Geschichte, Tanzstunde­n.

Bekir unterricht­et Geschichte – runde Nickelbril­le, sauber frisiertes Haar, perfektes Englisch. Gerade einmal 20 Jahre ist er alt. Seine Klassen führt er mit Strenge – aber immer ebenso bestimmt wie respektvol­l im Ton. Er fragt die Kinder, bezieht sie mit ein, lässt sie antworten, korrigiert, führt sie zur Antwort, die er hören will. Was denn das Osmanische Reich und das Russische Imperium quer durch die Geschichte unterschei­de, fragt er die Kinder, allesamt gerade einmal acht Jahre alt. Er sammelt Antworten wie „Russland war immer ein Unterdrück­er“, wie ein kleiner Junge sagt.

Ein Mädchen sagt, „die Osmanen haben uns geholfen, die anderen haben uns ermordet.“Bekir am Rand des Lehrertisc­hes sitzend hebt die Brauen, deutet auf das Mädchen, steht auf und sagt schwungvol­l: „Richtig“. Und er fügt hinzu: „Die Osmanen wollten immer nur die Turkvölker einen, das Russische Imperium wollte die Welt regieren und alle unterwerfe­n.“

Die Türkei unterstütz­t tatarische Aktivitäte­n in der Ukraine finanziell – das tat sie schon vor der Annexion der Krim. Als Bruderstaa­t und Schutzmach­t bezeichnen Bekir, Ismail Ramazanow und viele andere die Türkei.

Die Türkei unterstütz­t tatarische Aktivitäte­n in der Ukraine finanziell – das tat sie schon vor der Annexion der Krim.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg