Der Spielmann
„Mir ist ein offener Angriff immer lieber als die Schattenfechtereien dieser ganzen verknöcherten Gelehrten, die mich so oft der Ketzerei überführen wollen. Lasst uns zu Friedensverhandlungen nach drinnen gehen, da parliert es sich ungestörter.“Grinsend deutete er auf eine Seitengasse links des Anwesens.
„Von dort führt ein Tor in den Hinterhof meines bescheidenen Häuschens. Ihr müsst entschuldigen, dass meine Schwester Martha Euch nicht eingelassen hat. Wir haben einfach zu viele Bittsteller, meist irgendwelche fahrenden Studenten, die auf eine Stelle hoffen. Aber Euren Besuch lasse ich mir natürlich nicht entgehen, Herr Doktor. Schon auf dem Weg von der Universität hierher habe ich mindestens ein Dutzend Geschichten über Euch gehört.“
„Nur die Hälfte davon ist wahr“, entgegnete Johann achselzuckend.
„Und er wird Euch nicht verraten, welche“, ergänzte Karl Wagner mit einem Seufzen.
Agrippa bedachte ihn mit einem Seitenblick. „Ich sehe, Ihr habt einen Assistenten?“
„Ein begabter junger Mann“, erwiderte Johann. „Wenn mit ihm auch manchmal die Leidenschaft durchgeht.“
Gemeinsam mit Agrippa schritt er durch die Menschenmenge, die den beiden Doktoren nun Platz machte. Etliche der Bürger nahmen ihren Hut ab, doch Johann sah auch einige, die ein Kreuz schlugen oder ein Abwehrzeichen gegen das Böse machten. Derweil stieg Karl Wagner auf den Kutschbock und steuerte den Wagen durch die johlende Menge hindurch auf die Seitengasse zu.
Hinter dem Eingang schloss ein einfach eingerichteter Flur an, mit Fellen und Teppichen an den Wänden und duftenden Binsen auf dem Boden.
„Folgt mir ins Ofenzimmer“, sagte Agrippa und betrat die Treppe zum ersten Stock. „Dort können wir in Ruhe plaudern. Euer Assistent mag sich gerne so lange in der Küche von Martha verwöhnen lassen. Es gibt frische Kölner Schmalznudeln, eine echte Köstlichkeit! Wir wollen uns unterdessen mit der mageren, wenn auch ebenso wohlschmeckenden Kost des Kollegendisputs begnügen.
„Das sogenannte Ofenzimmer wurde dominiert von einem mannshohen grünen Kachelofen, wie er jetzt in Bürgerhäusern immer mehr in Mode kam. Hier herrschte im Gegensatz zum aufgeräumten Flur ein wildes Durcheinander. Auf Truhen und kleinen Tischen lagen überall verteilt Bücher und Schriftstücke, zwischen Tintenfass und Feder faulte ein bräunlicher Apfelbutzen. Es roch nach Pergament, Staub und Männerschweiß.
„Mein Reich“, sagte Agrippa lächelnd und wies Johann einen Schemel zu. Sie setzten sich, und Agrippa musterte sein Gegenüber lange.
„Soso, der berühmte Doktor Faustus“, sagte er schließlich und lehnte sich zurück. „Man hat mir von Euren Vorlesungen in Erfurt erzählt. Nicht schlecht, was Ihr da über den theologischen Begriff Gottes vorgetragen habt. Wenn auch ein wenig gefährlich, in diesen Zeiten ist man damit schnell ein Ketzer. Ich weiß, wovon ich rede.“
„Ihr gebt in Köln Vorlesungen?“, fragte Johann.
„Einfache theologische Diskussionen, ohne schematische Einordnung. Der Rektor hat mich darum gebeten.“Agrippa zuckte mit den Schultern, und Johann war sich nicht sicher, ob diese zur Schau gestellte Langeweile nur gespielt oder echt war. Agrippa schien äußerst klug zu sein, aber er hatte auch etwas Prahlerisches, allzu Lautes an sich.
Wie ich auch, dachte Johann. „Allerdings werde ich wohl nur für eine Weile in Köln bleiben“, fügte Agrippa hinzu. „Vermutlich ziehe ich bald weiter nach Italien, ich begleite dort als kaiserlicher Offizier eine schwer bewachte Kriegskasse. Davor habe ich einem Freund geholfen, in Spanien seine Burg zurückzuerobern. Ach ja, und erst kürzlich war ich in England als Agent unterwegs, im Auftrag des deutschen Kaisers. Es ging darum, mit dem neuen König Heinrich VIII. gute Handelsbeziehungen herzustellen, da war mein Englisch wohl förderlich.“Er hielt kurz inne und zog die Augenbraue hoch. „Kennt Ihr das Gefühl, nie zufrieden zu sein, immer mehr vom Leben zu wollen, immer weiter zu forschen, ohne Rücksicht auf Verluste?“
Johann nickte. „O ja, das kenne ich gut.“
Viel zu gut …
„Dann sind wir wohl Brüder im Geiste.“Agrippa lachte, es war ein leise klingelndes Lachen, fast wie das einer Frau. Er sah sich nach einem Krug Wein um, angelte von einem mit Büchern vollgestellten Tisch schließlich zwei schmutzige Becher und goss ihnen beiden ein.
„Ihr seht, ich bin ebenso rastlos wie Ihr. Heute hier, morgen dort, das Studium generale bezieht eben das ganze Leben mit ein. Aber Ihr seid sicher nicht nur da, um zu plaudern. Nicht wahr?“Agrippa klatschte in die Hände. „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen. Also, warum seid Ihr hier?“
Johann räusperte sich. „Als Ihr in England wart, habt Ihr offenbar an einem Manuskript geschrieben. Ich hatte in Hamburg die Möglichkeit, eine Abschrift davon zu erwerben.“Ein wenig nervös zog er den Packen mit den mitgebrachten Seiten hervor und strich sie glatt. Agrippa warf einen kurzen Blick darauf.
„Die ,Occulta philosophia‘“, sagte der Gelehrte mit einem Nicken. „Ich bin noch lange nicht fertig damit.“Er seufzte. „Ich hätte niemals zulassen sollen, dass dieser fette Hansekaufmann eine Abschrift erwirbt. Aber er hat gut gezahlt, und der Kaiser ist mit seinen Zahlungen bei mir mal wieder im Rückstand.“„ich muss Euch gratulieren. Es ist ein Meisterwerk!“Johann tippte auf die Seiten, die vor ihnen auf dem Tisch lagen. „Noch keiner hat die Magie so systematisch erfasst wie Ihr. Astrologie, Beschwörungen, Bannzauber, Mantiken, Zaubermittel …“„Alles reine Theorie.“Agrippa winkte ab. „Mir fehlt die Praxis, auf diesem Gebiet seid Ihr der Lehrer und ich nur ein eifriger Schüler. Warum interessiert Ihr Euch so dafür?“
Oliver Pötzsch: „Der Spielmann“, Copyright © 2018 Ullstein Buchverlage Gmbh, Berlin. ISBN 978-3-471-35159-8