Erinnern für die Zukunft
Das allmähliche Verschwinden der Zeitzeugen der Ns-zeit verändert das Gesicht der Gedenkkultur
Luxemburg. Die meisten von ihnen sind nicht mehr unter uns. Ob Täter oder Opfer, die Generation, die den Aufstieg des Ns-regimes und die damit verbundenen Verbrechen miterlebt hat, stirbt allmählich aus. Das Unausweichliche, das Verschwinden der Zeitzeugen bedroht die Gedenkkultur, die Erinnerung daran, zu welchen Taten der Mensch fähig ist, wenn blinder Hass ihn packt. Die Toten des Zweiten Weltkriegs, der Holocaust, das „Nie wieder“einfach vergessen?
„Mir ass net baang“, sagt Guy Dockendorf. Das Fortbestehen der Gedenkkultur sieht der Präsident des Comité pour la mémoire de la deuxième guerre mondiale nicht in Gefahr. Auch ohne Zeitzeugen sei ein Erinnern möglich. Damit die Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät, hätten weltweit Vereinigungen der Überlebenden und Historiker vorgesorgt. So halten Aufnahmen von Zeitzeugen in Ton und Bild ihre Erlebnisse am Leben. Aber auch durch das Weitererzählen der Schilderungen der Kriegsgeneration könnten die Nachfahren, die mit dieser Altersgruppe im Kontakt standen, die Erinnerung erhalten.
Mit der Zeit verändere sich natürlich auch die Gedenkkultur, denn jede Generation hat eine andere Beziehung zu den Ereignissen. „Wir, die zweite Generation, haben bereits eine andere Herangehensweise, als die Generation, die den Krieg wirklich erlebt hat“, sagt der 71-Jährige. Dasselbe gilt auch für jüngere Altersgruppen. „Unsere Kinder oder deren Kindeskinder sind vielleicht weniger emotional, ihr Interesse ist eher wissenschaftlich und historisch begründet.“Was aber bleibe, ist eine gewisse Kontinuität.
Gedenken 2.0
Die jüngeren Generationen setzen sich bereits mit der Zukunft der Erinnerungskultur auseinander. So habe zum Beispiel das Lycée du Nord in Wiltz vergangene Woche eine Veranstaltung unter dem Titel „Blummen, Kränz a Gerben 2.0 – Wou bleift d’erënnerungsaarbecht“organisiert. „Da kommen neue Herangehensweise und Ideen zusammen“, so Dockendorf. Die Erinnerung nehme neue Formen an, bleibe aber bestehen.
Das Comité de la mémoire habe zudem die Mission, sich direkt an Jugendliche zu richten und zusammen mit den jüngeren Generationen, Erinnerungsarbeit zu leisten. Gemeinsam mit Überlebenden der Konzentrationslager und deren Nachkommen reisen Schüler in die Lager. Solche Besichtigungen habe hierzulande eine lange Tradition. So organisiert etwa die Amicale des anciens prisonniers politiques luxembourgeois de Mauthausen bereits seit 1968 solche Reisen; die Témoins de la deuxième génération besichtigt seit 2001 Auschwitz.
„Junge Menschen, die die 186 Treppen der berüchtigten Todesstiege des früheren KZ Mauthausen in Österreich besteigen, erleben hautnah ein Stück der
Guy Dockendorf ist Präsident des Comité pour la mémoire de la deuxième guerre mondiale.
schrecklichen Umstände, unter denen Tausende zu Tode gequält wurden.“Sie stellen sich infrage, überlegen, wie sie selbst gehandelt hätten, wenn sie damals gelebt hätten. „Bei den jungen Generationen bemerke ich einen großen Durst. Sie wollen wissen, wie es damals war und spannen den Bogen zu den Ungerechtigkeiten von heute, lernen etwas über Fremdenhass, Antisemitismus und Rechtsextremismus“, sagt der ehemalige Lehrer. Auch das gehöre zur politischen Bildung.
Erinnerungsboom
Der Beginn der Erinnerungskultur liegt hierzulande unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit 1946 wird der nationale Gedenktag jeweils an dem Sonntag abgehalten, der dem 10. Oktober am nächsten liegt. Er bezieht sich auf das Oktober-referendum 1941, bei dem zahlreiche Luxemburger sich zur eigenen Sprache, Nationalität und Heimat bekannten und damit ein eindeutiges Zeichen an die Besatzung sandten.
Das Interesse der Bevölkerung am Zweiten Weltkrieg war jedoch mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt. Einem Aufsatz* des Historikers
Benoît Majerus zufolge lässt sich dies unter anderem an der Errichtung von Denkmälern ablesen. Die ersten lokalen Monuments aux morts wurden trotz der notwendigen Aufbauarbeiten bereits kurz nach dem Krieg errichtet. Ein Höhepunkt wurde 1949 mit 13 Einweihungsfeiern erreicht.
Ab der Mitte der 1950er-jahre folgt eine gewisse Sättigung: Die Zahl der neuen Denkmäler sinkt, ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den Veröffentlichungen der sich mit dem Krieg befassenden Bücher ab. Durch das Ausbleiben von Einweihungsfeiern, Zeitungsartikeln oder Erinnerungsschriften wird der Zweite Weltkrieg weniger in Erinnerung gerufen.
Etwa zehn Jahre später kommt es zu einem Umschwung, der sich bis in die 1980er-jahre hin verstärkt. Tausende Artikel werden verfasst, Dokumentar- und Spielfilme gedreht. Ein erstes nationales Denkmal – das Monument national de la solidarité – wird 1971 auf dem Kanounenhiwwel in Luxemburg-stadt eingeweiht.
Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg führt auch zu einem Sinneswandel. Ab den 1970er-jahren setzt die Geschichtswissenschaft sich hierzulande vermehrt mit der Kriegszeit auseinander. Dabei kommt es auch zu Konflikten mit der Erinnerungskultur. Während diese den Widerstand gegen die Besatzung als Grundelement des luxemburgischen Kriegserlebnisses sieht, das Großherzogtum gar als „Nation
von Märtyrern und Opfern“zeichnet, wie es Benoît Majerus ausdrückt, rücken in der Forschung unter anderem Kollaboration und Judenverfolgung in den Vordergrund.
Guy Dockendorf zufolge spielen diese Elemente in der öffentlichen Auseinandersetzungen zunehmend eine Rolle. Vor allem jüngere Forschungsergebnisse – wie zum Beispiel der Artuso-bericht, der sich mit der Rolle der Verwaltungskommission beschäftigt – erlauben, einen differenzierteren Blick auf die Luxemburger Vergangenheit zu werfen. In seinem Bericht schlussfolgerte der Historiker damals, dass Luxemburgs Institutionen mit dem Naziregime kollaboriert haben.
Licht und Schatten
Um die Geschichte und die Umstände des Zweiten Weltkriegs besser zu erklären, arbeitet das Comité pour la mémoire gemeinsam mit Historikern an einer neuen Broschüre. Dort sollen nicht nur die Rolle der Verwaltungskommission, sondern auch andere „Tabuthemen“beleuchtet werden. So stießen etwa vor Kurzem Historiker des nationalen Resistenzmuseums auf Beweise, dass eines der 14 Luxemburger Mitglieder des Reservebataillons 101 am Holocaust in Polen beteiligt war. Die Männer stammten aus den Reihen der Freiwilligenkompanie.
Guy Dockendorf zufolge müssen auch die dunklen Seiten der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Pauschal verurteilen dürfe man aber nicht. Vor allem dürfe dieser Einzelfall nicht vergessen lassen, dass von den rund 460 Soldaten der Freiwilligenkompanie, die gegen ihren Willen in die Wehrmacht integriert wurden, etwa 265 wegen ihres Widerstands in Gefängnisse und Konzentrationslager
kamen. 77 von ihnen verloren dort oder an der Front ihr Leben. Auch an die vielen Beispiele von aktivem und passivem Widerstand und von Solidarität müsse weiter erinnert werden.
Gedenkarbeit bleibt für Guy Dockendorf aber weit mehr als ein bloßes Erinnern, sondern spielt auch in der Gegenwart eine tragende Rolle. „Sie hat aber nur einen Sinn, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird. Die Werte, für die Menschen damals gelitten haben und gestorben sind, müssen auf die heutige Zeit übertragen werden.“
Das gelte auch für den Umgang mit Flüchtlingen aus aller Welt. Auch sie haben ein Recht auf Respekt und Hilfe, schließlich waren auch nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen, in West- und Osteuropa, auf der Flucht und auf die Hilfe anderer angewiesen. „Gedenkarbeit ist heute nur sinnvoll, wenn wir uns alle aktiv gegen Fremdenhass, Antisemitismus, Antiislamismus und Intoleranz und für die Wahrung der Demokratie und der Menschenrechte einsetzen“, sagt Guy Dockendorf.
Gedenkarbeit hat nur Sinn, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird.
Guy Dockendorf
*Besetzte Vergangenheit. Erinnerungskulturen an den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg. Von Benoît Majerus, in Hémecht: Zeitung für Luxemburger Geschichte 64/3, 2012.