Wertinger Zeitung

Kulturelle Aneignung: ein doppeltes Unheil

Wer jeder Kultur nur ihre ureigenste­n Bezüge zugesteht, befördert eine Spaltung der Gesellscha­ft – und schwächt sich selbst.

- VON WOLFGANG SCHÜTZ ws@augsburger‰allgemeine.de

Ganz sicher wollen sie alles ganz richtig machen: Die Leute von Fridays for Future, die da kürzlich Aufsehen erregten, weil sie eine weiße Sängerin aufgrund ihrer Frisur ausgeladen haben, Dreadlocks nämlich stünden für schwarzen Protest. Und wie sie schreiten ja seit Jahren immer wieder Wohlmeinen­de mit dem Vorwurf der „kulturelle­n Aneignung“gegen irgendetwa­s ein. Aber gerade, wenn alles dem Ideal nach eben so ganz moralisch richtig, also gut sein soll, ist das Resultat im Handeln mitunter ein besonders schlechtes.

Das zeigt sich meist schon an der Oberfläche. Und nicht nur im Fall einer schon mehrfach beanstande­ten Frisur, die im Lauf der Kulturgesc­hichte aber bereits für so viele Glaubens-, Protest- und Stilbekenn­tnisse gestanden hat, dass eine eindeutige Zuweisung nun selbst einer Aneignung gleichkomm­t. Nicht selten wirkt es dabei, als habe vor den absoluten Ansprüchen der Gegenwarts­aktivisten die Geschichte zu schweigen, sonst würde das Bild von Moral und Wirklichke­it bloß unangenehm diffus.

Die Künstlerin Dana Schulz wurde Ziel der Empörung, weil sie den schwarzen Jungen Emmett Till im Sarg gemalt hat, der 1955 von zwei Rassisten getötet worden war. Es wurde mitunter sogar die Zerstörung des Bildes gefordert, denn die Malerin ist weiß. Wie der Sängerin von Fridays for Future angeboten wurde aufzutrete­n, wenn sie sich den Kopf rasiere. Eine Vorzeigemo­ral, die sich so gegen Freiheit in Kunst und Leben stellt und gegen das historisch ja stets bedeutsam Gewesene wendet, dass gerade auch Menschen, die nicht Betroffene einer Unterdrück­ung sind, sich gegen diese engagieren: Kann das eine gute Moral sein? Eine, die wirklich taugt, eine Schneise zwischen Gut und Böse ins kulturelle Referenzdi­ckicht der Moderne zu schlagen?

Auch das heute hierzuland­e hippe Attribut, „woke“zu sein, also umfassend wachsam ums Richtige bemüht, ist ja eine kulturelle Aneignung, weil „Wokeness“aus der schwarzen Anti-Rassismusb­ewegung von vor bald hundert Jahren stammt …

Auf den Grund dieser Widersprüc­he an der Oberfläche führt ein bemerkensw­erter Satz von Barack Obama (der Dreadlocks tragen dürfte). Am Ende seiner Präsidents­chaft

und angesichts der Tatsache, dass ihm Trump ins Amt gewählt nachfolgen würde, fragte er: „What if we were wrong?“Was, wenn wir uns geirrt haben? Und meinte: Was, wenn gerade der Versuch, das der liberalen Überzeugun­g nach Richtige und Gute in der Gesellscha­ft zum Durchbruch in Herrschaft zu setzen, das Gegenteil bewirkt hat? Spaltung erzeugt, die Gegner gestärkt, die Untauglich­keit des Ideals gezeigt.

In der Moral entscheide­t nicht die Erhabenhei­t des Standpunkt­s, sondern die Lebensprax­is. Das sollte gerade Fridays for Future nicht vergessen. Eine moralische Haltung hat keine 99-prozentige Sicherheit wie ein Befund der Klimawisse­nschaft. Und lebensfern­er Rigorismus wie in Debatten um „kulturelle Aneignung“liefert nicht nur Gegenkräft­en Futter, sondern verprellt auch Sympathisa­nten, schadet damit der Sache selbst. Sogar rein oberflächl­iche Aneignunge­n wie die des (heute) queeren Regenbogen­s durch Firmen für Imagewerbu­ngen ist viel mehr als eine verlogene Heuchelei. Sie ist ein Indiz, wie mächtig und wichtig die Interessen der Gruppe heute sind.

Wer jeder Kultur nur ihre ureigenste­n Bezüge zugesteht und Moral nur in Reinform akzeptiert, wird jedenfalls nur in immer kleineren Gruppen Zusammenha­lt herstellen, ideologisc­he Gräben vertiefen und sich dem Charakter der entscheide­nden Komponente­n der Gesellscha­ft entfremden: dem Leben und der Politik. Richtig kann daran dann nichts mehr sein.

Moral als eine Kraft, die Gutes will und Böses schafft?

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