„Das war die härteste Krise aller Zeiten“
Ulrich Heuer hat als Leiter des Krisenstabs bei der Tui schon viel erlebt. So etwas aber noch nie
„Ich bin seit 25 Jahren Krisenmanager bei Tui, davon bin ich zwölf Jahre Leiter des Krisenstabs. Ich habe also wirklich schon viele unvorhergesehene Ereignisse erlebt, aber so etwas habe ich in meiner gesamten Laufbahn noch nicht gesehen. Als ich Ende letzten Jahres zum ersten Mal von einem neuartigen Virus aus China hörte, war ich sofort hellhörig. Anfangs war ich mit den Gedanken an eine mögliche Pandemie noch fast alleine. Als die ersten Fälle in Italien auftauchten, war klar, dass wir auf etwas Großes zusteuern. Die größte Herausforderung war, dass immer mehr Länder die Ausreise aller Urlauber binnen kürzester Zeit verlangten. Da war der Druck unheimlich hoch. Wir mussten die Prioritäten ständig ändern. Das war schon unglaublich, wenn man bedenkt, dass wir über 70000 Gäste weltweit auf Reisen hatten. Zum Vergleich: Beim Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010 auf Island waren es 30000 Gäste.
Begonnen haben wir damit, mit unserer Airline Tuifly nur noch Gäste nach Hause zu fliegen, aber keine neuen Gäste mehr in die Reiseziele zu bringen. Mal zum Vergleich: Die längste Krise, die unser Krisenzentrum für eine Rückholaktion bis dahin beschäftigt hatte, dauerte acht Tage. Das war der Hurrikan Irma im Jahr 2017. Bei der Corona-Krise waren wir allein für den touristischen Teil fünf Wochen im Krisenmodus. Welche Maßstäbe werden bei solch einer Rückholaktion angesetzt? Die Frage, die über allem steht: Besteht für die Gäste ein Risiko für Leib und Leben. Einige Hotels etwa schickten ihr gesamtes Personal in Quarantäne. Die Versorgungslage der Gäste war vor Ort nicht mehr sichergestellt. Außerdem war es naheliegend, die Leute erst aus den Mittelzielgebieten zurückzuholen. Innerhalb von drei
Tagen haben wir etwa alle unsere deutschen Gäste von den Kanaren nach Hause gebracht. Gleichzeitig darf man die anderen Zielgebiete nicht vernachlässigen. Am kompliziertesten gestaltete sich die Situation in Neuseeland. Schon allein wegen der Zeitverschiebung. Es war schwierig, mit den Kunden Kontakt zu halten, was aber in solchen Situationen schon rein psychologisch elementar ist. Hinzu kommt: Nach Neuseeland kann man nicht dreimal täglich eine Maschine schicken, um die Leute zurückzuholen. Andererseits gab es aber auch Gäste auf einigen Malediveninseln, die nicht vorzeitig abreisen wollten, da das touristische Leben dort normal weiter lief. Rückblickend sage ich, wir hätten die Rückholaktion nicht besser organisieren können. In jeder Krise sind mindestens 20 Prozent der Situation komplett neu. Da hilft dann Erfahrung – und die hatten wir schon vorher bei vielen Ereignissen gesammelt.
Spätestens als am 16. März das Auswärtige Amt die weltweite Reisewarnung rausgegeben hatte, war klar, dass wir unser Geschäft pausieren mussten. Noch etwas, das ich bis dahin nie erlebt habe. Wir haben jetzt Task Forces gebildet, die alle verfügbaren Informationen zu unseren Reisezielen sammeln, um ein Gespür dafür zu bekommen, wann es wieder losgehen könnte. Man fährt Urlaubsgebiete nicht innerhalb von 24 Stunden hoch. Die Flieger unserer Airline müssen wieder bereit sein, Reiseleiter eingeplant und mit Hotelpartnern gesprochen werden, wann sie wieder öffnen können.
Ob sich so eine weltweit angelegte Rückholaktion noch einmal wiederholen könnte? Coronabedingt sicherlich nicht. Aber als Krisenmanager habe ich gelernt, nie etwas auszuschließen.“Protokoll: mai