Auf der linken Spur packten sie ihren Grill aus
Verkehr 2018 gab es auf deutschen Autobahnen so viele Staus wie noch nie. Unsere Leser erinnern sich an unglaubliche Erlebnisse im Stillstand. Eine Geschichte über Partys in der Rettungsgasse, riskantes Rückwärtsfahren und eine zarte Romanze
Augsburg Wenn Fabian Kneule aus dem Fenster sieht, ist der Anblick fast immer gleich trist: Er sieht Autos. Schwarze, weiße, viele grau wie die Umgebung. Stehende Autos.
Kneule lebt mit seiner Freundin in einer Neubauwohnung direkt an der A8-Anschlussstelle Merklingen bei Ulm. Er ist bewusst dorthin gezogen. „Ich arbeite im Außendienst und hielt es für verkehrstechnisch günstig, direkt an der Auffahrt zu wohnen.“Wenn der 24-Jährige heute auf dem Balkon steht und die Bremslichter rot leuchten sieht, weiß er es besser. „Jeder kennt die Anschlussstelle Merklingen aus dem Radio“, sagt Kneule. Seit dort die Autobahn auf sechs Spuren ausgebaut wird, ist sie einer der Stauschwerpunkte Deutschlands.
Und davon gibt es weiß Gott viele. A1, A5, die A3 sowieso, und wehe, auf der A7 oder A8 hat es gekracht... In Summe heißt das dann nach Berechnungen des ADAC allein auf deutschen Autobahnen: sage und schreibe 745000 Staus im Jahr 2018, mehr als 2000 pro Tag – so viele wie noch nie.
Die Nachricht fiel ausgerechnet in eine Woche, in der eine Regierungskommission aus Vertretern von Autoindustrie, Gewerkschaft, Bahn, Kommunen, Umweltverbänden und auch des ADAC ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen forderte. „Gegen jeden Menschenverstand“, wie Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sofort bemerkte. Und der ADAC betonte, dass er zwar dabei war, die Idee aber nicht gut findet.
Das Thema ist trotzdem in der Welt, mal wieder, muss man hinzufügen. Die Debatte wird seit Jahrzehnten geführt, hat den in manchen Augen grundrechtsgleichen Spruch „Freie Fahrt für freie Bürger“hervorgebracht, mit digitalen Telematik-Anlagen aber auch eine moderne differenzierende Variante. Weil die nur dann ein Tempolimit vorgibt, wenn zu viel Verkehr herrscht oder die Straßen glatt sind.
Der Humorist mag nun einwerfen: Was spricht gegen ein Tempolimit, im Stauland Deutschland schafft man ja nicht mal 130 Sachen. Das bringt Leute wie Fabian Kneule, die jeden Tag die Autobahn nutzen müssen, aber auch nicht weiter. Er betreut Immobilienprojekte entlang der A8 von Merklingen bis Elchingen und der A7 bis Memmingen. So kriegt er täglich 200 Kilometer zusammen. Egal zu welcher Tageszeit, ständig gerate er in Staus, erzählt Kneule. Ständig werde sein Plan für den Arbeitstag über den Haufen geworfen. „Es ist eine Katastrophe.“Da mag seine MercedesC-Klasse noch so komfortabel sein: „Wenn ich im Stau stehe, fühle ich mich hilflos und wütend zugleich.“
Hilflos, weil der Verkehr so unberechenbar sei. Weil ihm auch nach langjähriger Außendienst-Erfahrung die Fähigkeit fehle, einen Stau vorherzusehen. Und wütend, wenn Autofahrer um ihn herum wieder vor lauter Egoismus die Rettungsgasse ignorierten. „Man kann nicht in Worte fassen, wie leichtsinnig die Leute damit umgehen.“
Irgendwann weniger fahren zu müssen, danach sehnt sich Kneule zwar nicht. „Es ist mein Job, unterwegs zu sein. Und dieser Job macht mir einfach zu viel Spaß.“Aber wenn er aus dem Fenster schaut, im Urlaub etwa, dann ist er trotzdem froh, dass er mal nicht da unten im Wagen sitzt, sondern auf seiner gemütlichen Couch.
Dieser unberechenbare Verkehr. Nun, so unberechenbar sei er manchmal gar nicht, heißt es beim ADAC. Wenn beispielsweise wie 2018 die Strecke, die jedes Auto insgesamt zurücklegt, im Schnitt um 0,4 Prozent gestiegen ist und man hinzurechnet, dass immer mehr Fahrzeuge unterwegs sind, dann liegt es auf der Hand, dass die Wahrscheinlichkeit für Staus steigt. Für den Autoklub ist das jedenfalls der erste Hauptgrund für den Rekordwert. Der zweite: Es gab drei Prozent mehr Baustellen.
Was hinzukommt, ist der Faktor Mensch, besser: der Faktor Fahrer. Da ist sie dann wieder, die Unberechenbarkeit und die Wut von Fabian Kneule. „Zehn bis 20 Prozent aller Staus könnten wir uns ersparen, wenn sich die Menschen kooperativ verhalten würden“, sagt PhysikProfessor und Stau-Forscher Michael Schreckenberg von der Universität Duisburg-Essen. Aber jeder wolle eben sein eigenes Tempo fahren, und das bei oft viel zu geringem Abstand zum Vordermann.
Dann gibt es noch die „Lückenhüpfer“, die in der Kolonne ständig die Spur wechseln, damit zwar auch nicht wirklich schneller vorankommen, andere aber zum Bremsen zwingen und eine Kettenreaktion auslösen. Ergebnis: Stau. Was dem Lückenhüpfer egal ist, die Kettenreaktion passiert ja hinter ihm. Nur machen das andere vor ihm auch, und dann erwischt es ihn selbst.
Und schließlich ist da der Umstand, dass sich so viele so schwer damit tun, im Stau eine Rettungsgasse zu bilden – auf zweispurigen Autobahnen in der Mitte, auf dreispurigen zwischen der äußeren linken und den restlichen. Mit der Folge, dass Einsatzkräfte und Abschleppwagen nicht durchkommen und der Stau immer länger wird.
Wenn Dennis Mehl, 21, von der Vollsperrung letzten Sommer auf der A9 bei Dessau erzählt, ist er immer noch ganz aufgebracht. Der Augsburger hat schon viel erlebt in den Staus dieses Landes. Jede Woche pendelt er zwischen seiner Heimatstadt und Berlin, wo er als Polizist arbeitet. Er hat sensationsgierige Gaffer gesehen, hat auf dem Fahrersitz gebibbert, wenn nach ein paar Stunden Stillstand die Kälte in den Wagen kroch. „Aber das“, sagt er über die Sache in Sachsen-Anhalt, „war das Krasseste.“
Stau also. Hinter ihm rast der Notarzt heran. Dort machen die Autofahrer auch die Rettungsgasse frei. Doch direkt vor seinem BMW 116: vier junge Männer, die allen Ernstes einen Grill auspacken. Mitten auf der linken Spur grillen sie Würstchen und trinken Bier. Es geht nichts vor und nichts zurück.
Das Martinshorn ist jetzt deutlich zu hören, Autofahrer reden auf die Grillrunde ein. Als nichts mehr hilft, outet sich Mehl als Polizist. Er listet die Konsequenzen für Leute auf, die die Rettungsgasse blockieren. Nur unter „übelstem Druck“anderer Fahrer bauen die Männer den Grill ab. Gerade noch rechtzeitig.
Mehl legt im Jahr 80 000 Kilometer zurück. Aus Liebe zur Heimat Augsburg. Nur durch seine ExFreundin sei er in Berlin gelandet. „Ich suche schon lange einen Tauschpartner bei der Polizei, um wieder zurückzukönnen.“Aber niemand wolle in der Hauptstadt arbeiten. Für Mehl bedeutet das: zwei Fahrten pro Woche, acht im Monat.
„Davon stehe ich mindestens viermal im Stau.“Am schlimmsten sei es auf der A9 bei Nürnberg. Vier Stunden stand er kürzlich dort. „Insgesamt habe ich für die Fahrt dann 13½ Stunden gebraucht.“Er träumt von einem System, mit dem Autos irgendwann so miteinander kommunizieren, damit ein Stau gar nicht erst entsteht.
Die Statistik des ADAC sagt, dass die Zahl der Staus auf den Autobahnen unserer Region – also A7, A8 und A96 – leicht gesunken ist. Aber was hilft das, wenn die Strecken trotzdem noch viel zu oft überlastet sind? Zumal Bayern nach Nordrhein-Westfalen im negativen Sinn auf Platz zwei der stauträchtigsten Bundesländer liegt. Und deutschlandweit sogar den staureichsten Abschnitt vorweisen kann – auf der A3 zwischen der österreichischen Grenze bei Suben und Passau. Grund sind die Grenzkontrollen.
Die Statistik sagt übrigens auch, dass der Mittwoch der schlimmste Tag in Sachen Stau war, dicht gefolgt vom Donnerstag. Das lag daran, so der ADAC, dass 2018 mit Allerheiligen ein Feiertag mehr auf einen Donnerstag fiel. Viele Kurzurlauber nutzten das nachfolgende lange Wochenende und fuhren bereits am Mittwoch los. Der war feiertagsbedingt auch mehrfach frei. Und: Staus im Berufs- und Pendelverkehr, also unter der Woche, überwiegen die im Reiseverkehr am Wochenende deutlich.
Vanessa Marina Mann, 30, pendelt mit Unterbrechungen seit zehn Jahren auf der A8, in ihrem jetzigen Job von Aystetten im Kreis Augsburg zum Schloss Fürstenried im Südwesten Münchens. „Auf die Woche hochgerechnet stehe ich durchschnittlich bestimmt zwei bis drei Stunden im Stau oder in extrem zähem Stop-and-go-Verkehr“, erzählt die Empfangsleiterin. Im Monat
„Ich fühle mich hilflos und wütend zugleich.“
Fabian Kneule
„Die Fahrer nehmen immer weniger Rücksicht.“Vanessa Marina Mann
also macht das mehr als einen Arbeitstag aus, den sie auf der Straße verplempert. Angenommen, sie geht mit 67 Jahren in Rente und der Verkehr wird noch schlimmer – da kommen ja weit mehr als 400 Stautage zusammen.
Minimaler Sicherheitsabstand, unvermittelte Spurwechsel, Jugendliche, die bei Schrittgeschwindigkeit aus ihrem VW-Bus pinkeln: Vanessa Mann fühlt sich durch solche Erlebnisse bestätigt, was auch andere Staugeplagte erzählen. „Die Fahrer werden immer rücksichtsloser. Ein Verrückter kam zwischen Adelzund Odelzhausen auf die Idee, bei einer Vollsperrung rückwärts auf dem Seitenstreifen bis zur vorherigen Ausfahrt zu fahren.“Wenn gar nichts mehr hilft, legt sie im CDFach Helene Fischer ein: „Auf der Autobahn mit 300 fahren“, diese Textzeile aber eher nicht.
Polizist Dennis Mehl sucht sich, wann immer möglich, Mitfahrer, damit die Zeit im Stau schneller vorübergeht. Das sichert ihm einen Teil des Benzingeldes – und zeigt ihm, dass der Stau die Menschen nicht nur in Wut vereinen kann. Er erinnert sich an einen Tag, als wieder mal Vollsperrung war. „Ich hatte einen Typen und eine Frau dabei. Irgendwann sind wir ausgestiegen und wollten uns die Beine vertreten. Unsere Mitfahrerin hatte vom Sitzen Rückenschmerzen.“Der Beifahrer war Physiotherapeut.
Heute sind die zwei ein Paar.