Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (62)
EFrankenstein ist jung, Frankenstein ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffung einer künstlichen Kreatur, zusammengesetzt aus Leichenteilen, animiert durch Elektrizität. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen …
r, dabei deutete es auf den Toten, „er litt nicht so viel wie ich, nicht den zehntausendsten Teil davon. Aber es drängte mich unaufhaltsam vorwärts auf der eingeschlagenen Bahn, trotzdem mich die Gewissensbisse unsäglich peinigten. Glauben Sie, daß mir das Geröchel Clervals Musik war? Mein Herz war geschaffen für Liebe und Mitleid und es litt schwer darunter, daß ich von einem grausamen Schicksal dazu verdammt ward, meinen Weg durch Blut und Tränen zu gehen.“
„Nach dem Tode Clervals kehrte ich in die Schweiz zurück, gebrochen und elend. Ich bemitleidete Frankenstein, und dieses Mitleid wurde zum Entsetzen, zum Entsetzen über mich selbst. Aber als ich bemerkte, daß er, der Urheber meines Lebens und damit meiner unbeschreiblichen Leiden, es wagte, an Erdenglück zu denken; daß er, der Schmerz und Verzweiflung über mich gebracht hatte, nun daran ging, Liebe und Seligkeiten zu genießen, die mir auf ewig versagt waren, da ergriff mich
von neuem grimmiger Haß und brennender Rachedurst. Ich erinnerte mich meiner Drohung und beschloß, sie auch wahr zu machen. Ich wußte, daß ich mir selbst wieder neue Qualen schuf; aber ich war der Sklave meiner Leidenschaft, die ich selbst verabscheute, der ich aber gehorchen mußte. Wie, wenn sie stürbe, dann wäre mein Durst gestillt! Ich hatte alles Mitleid vergessen, ich unterdrückte meine Angst, um ganz in der Grausamkeit meiner Verzweiflung schwelgen zu können. Und von da an machte mir das Grausame Freude. Nachdem ich einmal so weit war, gab ich mich willenlos der Leidenschaft hin. Die Erfüllung meiner teuflischen Bestimmung ward mir eine Genugtuung. Und nun ist es zu Ende; hier liegt mein letztes Opfer.“Zuerst rührten mich diese Ausbrüche seiner Reue, diese Schilderungen seines Elends; aber dann erinnerte ich mich dessen, was Frankenstein von der Beredsamkeit und dem bestechenden Wesen des Dämons mir gesagt hatte. Und als mei- ne Blicke auf die irdischen Reste meines Freundes fielen, ergriff mich Groll und Haß. „Verfluchter,“sagte ich, „nun kommt Ihr und klagt über das Unheil, das Ihr angerichtet. Ihr habt eine brennende Fackel in das Haus geworfen, und nun sitzt Ihr auf den Trümmern und weint über die Zerstörung. Heuchlerischer Teufel! Wenn dieser hier wieder aufstünde, so würde er von neuem das Ziel eurer grausamen Rachsucht sein. Es ist nicht Mitleid, was Ihr fühlt; Ihr jammert nur darüber, daß euch euer Opfer aus den Krallen geglitten ist.“
„Nein, nein – so ist es nicht, wenn auch der Augenschein gegen mich spricht. Ich erhoffe mir jetzt keine Genossin mehr in meinem Elend, und Liebe wird mir nimmermehr zuteil werden. Ja, als ich noch gut war, sehnte ich mich danach, dadurch glücklich zu werden, daß ich selber glücklich machte. Aber mit der Güte ist es vorbei und die Hoffnung auf Glück hat sich in bittere Verzweiflung gewandelt, in der ich keines Mitgefühls mehr bedarf. Ich bin zufrieden, wenn ich mein Leid allein tragen kann; lange wird es ja ohnehin nicht mehr dauern. Einst schwoll mein Herz in stolzen Hoffnungen von Ruhm, Ehre und Freude. Ich war so töricht zu glauben, daß ich Wesen finden könnte, die, über meine äußerliche Häßlichkeit hinwegsehend, das Gute lieben würden, das ohne Zweifel in mir wohnte. Aus den lichten Höhen ward ich herabgestützt und das Verbrechen hat mich zum Tier gemacht. Keine Schuld, keine Missetat, keine Bosheit, keine Schlechtigkeit, die ich mir nicht zu eigen gemacht hätte. Wenn ich das gräßliche Register meiner Verbrechen im Geiste aufrolle, kann ich mich selbst nicht mehr erkennen. Aber es ist eben so: gefallene Engel werden zu Teufeln. Nur hat der Erzfeind Gottes und der Menschen Genossen seiner Schmach – und ich bin allein.“
„Sie, der Sie Frankenstein Ihren Freund nannten, scheinen über sein Unglück und meine Übeltaten unterrichtet zu sein. Aber mochte er Ihnen alles noch so eingehend erzählen, über die qualerfüllten Stunden, Tage und Monate, die ich durchleben mußte, gab er Ihnen wahrscheinlich ebensowenig Rechenschaft, wie sich selbst. Denn während ich sein Glück, seine Hoffnungen eine nach der anderen vernichtete, blieben meine eigenen Wünsche unbefriedigt. Sie brannten noch lichterloh in mir; immer noch sehnte ich mich nach einer Genossin, nach Liebe und Freundschaft. Lag darin nicht eine grausame Ungerechtigkeit? Warum bin ich der einzige Schuldige, da doch alle sich an mir versündigten? Warum hassen Sie denn nicht Felix, der den Armen mit Schlägen von seiner Schwelle vertrieb? Warum suchen Sie nicht den Bauern, der den Retter seines Kindes mit der Mordwaffe schwer verwundete? Nein, das sind reine, edle, makellose Wesen, und ich, der Unglückliche, Verlassene, bin eine Mißgeburt, die man stoßen und schlagen und treten darf. Noch heute kocht mein Blut, wenn ich dieser Ungerechtigkeit, dieser Schmach gedenke.“
„Ich weiß, ich bin ein Verbrecher. Ich habe liebliches, unschuldiges Leben hingemordet; ich habe die harmlosen Menschen gewürgt, während sie schliefen, und ihnen die Kehle zugedrückt, daß sie starben; und sie hatten doch weder mir noch anderen ein Leid getan. Ich habe mir geschworen gehabt, meinen Schöpfer, eine Zier seines Geschlechtes, einen lieben, anbetungswürdigen Menschen, dem Verderben zu weihen; ich habe ihn verfolgt bis an die Pforten des Todes. Hier liegt er nun, bleich und kalt und starr. Sie hassen mich, aber Ihr Haß, Ihr Abscheu kann lange nicht mit dem verglichen werden, den ich selbst gegen mich empfinde. Ich sehe die Hände an, die das Verruchte getan; ich höre das Herz klopfen, in dessen Tiefen die grausamen Pläne reiften, und ich sehne mich nach der Zeit, da diese Augen nicht mehr die blutigen Hände sehen und die düstren Gedanken schlafen gegangen sein werden.“„Seien Sie unbesorgt; ich werde nicht länger mehr ein Werkzeug des Bösen sein. Meine Aufgabe ist nahezu vollendet. Weder Ihr Leben noch das eines anderen Menschen brauche ich mehr, um den Ring meiner Verbrechen zu schließen. Mein eigens Leben ist es, das zum Opfer fallen muß. Glauben Sie auch nicht, daß ich noch lange damit warten werde. Ich werde Ihr Schiff verlassen und mich auf meinem Schlitten dahin begeben, wo der Pol ins eisige Weltall hinausragt. Dort will ich mir aus den Trümmern meines Schlittens und aus angespülten Schiffsplanken einen Scheiterhaufen bauen und diesen elenden Leib verbrennen zu Asche, so daß kein sterbliches Auge mich mehr sieht; daß kein Verwegener aus meinen Überresten erraten kann, wie man solche Wesen schafft, wie ich eines bin. Ich werde sterben und frei werden von den namenlosen Qualen, die mir auf Erden beschieden waren. Auch er ist tot, der mich ins Leben rief, und dann wird die Erinnerung an uns bald erloschen sein. Nicht länger mehr darf ich in die Sonne und in die funkelnden Sterne schauen, nicht länger mehr den Hauch des Windes um die Wangen säuseln lassen. Licht, Gefühl und Denken werden dahinschwinden, und dieser Zustand des Nichtmehrseins ist meine Hoffnung.