Das Cello rettete ihr Leben
Eigentlich hatte sich die 92 Jahre alte Jüdin Anita Lasker-Wallfisch geschworen, nie wieder deutschen Boden zu betreten. Weshalb sie dennoch im Bundestag spricht
Wenn ihr Orchester in den vergangenen Jahrzehnten Deutschlandreisen unternahm, fuhr die in England lebende Musikerin Anita Lasker-Wallfisch nicht mit. „Ich hätte das als Hochverrat empfunden“, sagt die heute 92 Jahre alte Holocaust-Überlebende. Doch dann sieht sie, dass eine Reise nach Soltau und Celle geplant ist. „Da dachte ich mir, ich will wissen, was aus diesem Belsen geworden ist.“Heute ist Lasker-Wallfisch sogar im Deutschen Bundestag in Berlin zu Gast – zur Gedenkstunde anlässlich des 73. Jahrestags der Befreiung des größten NS-Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945.
Lasker-Wallfisch, 1925 als dritte Tochter eines Rechtsanwalts und einer Geigerin in Breslau (Wroclaw) geboren, lernte früh Cello. Ihre Familie sei „kulturbesessen“gewesen, sagt sie. Samstags las man die literarischen Klassiker, sonntags sprach die Familie nur Französisch. Mit acht Jahren sei sie erstmals mit ihrer jüdischen Herkunft konfrontiert worden. „Ich wollte in der Schule die Tafel abwischen, aber ein Junge sagte, gib’ dem Juden nicht den Schwamm.“Nach der Deportation ihrer Eltern 1942 arbeitete sie in einer Papierfabrik. Mit einer ihrer Schwestern versuchte sie im Juni 1943 zu fliehen – doch am Breslauer Hauptbahnhof war Endstation. Sie wurden verhaftet, kamen ins Gefängnis.
Von da aus ging es für Lasker-Wallfisch im Dezember 1943 nach Auschwitz. An die Ankunft im Lager erinnere sie sich noch gut, sagt LaskerWallfisch heute. Vor allem an schwarze Gestalten, bellende Hunde, Geschrei und einen entsetzlichen Gestank. Man habe sie ausgezogen, den Kopf rasiert und ihr die Nummer „69388“auf den linken Arm tätowiert. Währenddessen habe ein Mädchen mit ihr geplaudert. „Es wollte wissen, was ich vorher so gemacht habe.“Sie habe „Cello spielen“geantwortet, sagt LaskerWallfisch. „Warum ich gerade das erzählt habe, weiß ich nicht.“Doch dieser Zufall rettete ihr das Leben. Denn es stellte sich heraus, dass dem Orchester des Konzentrationslagers eine Cellistin fehlte. So wurde Lasker-Wallfisch Teil des Mädchenorchesters und entging dem Tod.
1944 kam sie mit einer ihrer Schwestern nach Bergen-Belsen. Ihre Befreiung dort im April 1945 erlebte sie nach eigenem Bekunden wie betäubt: Zum Jubeln habe ihr die Kraft gefehlt. 1946 wanderte sie nach Großbritannien aus. Sie heiratete Peter Wallfisch, der 1993 starb.
Die Erfahrungen der Gefangenschaft seien mehr gewesen, als ein ganzes Menschenleben verkraften könne, sagt Lasker-Wallfisch. „Ich war 19 und fühlte mich wie 90.“Mittlerweile ist sie älter, als sie sich damals fühlte.
Die erste Reise nach Deutschland habe ihr gezeigt, dass sie ihre Zeit besser nutze, wenn sie sich für das Erinnern einsetze – anstatt in England zu sitzen und die Deutschen zu hassen, sagt sie. „Zeitzeugen sind wirksamer als Geschichtsbücher.“
Dana Kim Hansen, kna