Umstrittene Landkreis-Regel vor dem Aus
Zahl der Kreise mit Notbremse steigt – Land erwägt Rückkehr zu einheitlichen Maßnahmen
STUTTGART - 72 Corona-Neuinfektionen hat Schrozberg in den vergangenen sieben Tagen verzeichnet. Hochgerechnet sind das 1237,3 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner. Die Kleinstadt im Landkreis Schwäbisch Hall hat sich damit zu einem der bundesweit am stärksten belasteten Hotspots entwickelt. Im Stadtgebiet müssen die Menschen deshalb künftig eine Maske tragen. Im ganzen Landkreis gilt von diesem Samstag an jedoch ohnehin eine ganztägige Ausgangssperre. Der Kreis Schwäbisch Hall ist die Spitze des Eisbergs. Doch andere Regionen nähern sich ihm an. Auch die Landkreise Sigmaringen, Tuttlingen und der Alb-Donau-Kreis haben zuletzt die Notbremse gezogen und Lockerungen rückgängig gemacht. Insgesamt haben das inzwischen mindestens elf Landkreise getan, heißt es aus dem Gesundheitsministerium. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kündigte am Freitag angesichts der steigenden Infektionszahlen schärfere Corona-Auflagen für das ganze Land an. Damit könnte auch eine Regelung fallen, die bei den Landkreisen ohnehin nicht besonders beliebt war.
Er gehe davon aus, dass es nicht dabei bleiben werde, dass Stadt- und Landkreise selbstständig über Öffnungen je nach Inzidenzen entscheiden können, sagte Kretschmann. Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz lag im Land zuletzt um die 90. Zudem müssten die Einwohner von Hotspot-Regionen mit harten Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen rechnen. Es hänge jetzt viel davon ab, wie schnell man mehr impfen und deutlich mehr testen könne, „um risikoärmer öffnen“zu können, so Kretschmann.
Eigentlich hatten sich Bund und Länder Anfang März darauf geeinigt, dass in den Stadt- und Landkreisen abhängig von den Infektionszahlen Lockerungen möglich sein sollen, zum Beispiel die Öffnung des Einzelhandels, von Museen, Galerien oder Zoos. In Kreisen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 konnten diese Einrichtungen seither sogar ohne Terminbuchung besucht werden. In Kreisen mit einem Wert zwischen 50 und 100 ist eine Terminbuchung nötig. Nur für Kreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 100 sind die Lockerungen im Handel und in der Freizeit weggefallen.
Die Regel war eine Reaktion auf die immer lauter gewordene Forderung nach regionalen Abstufungen. Wo es wenig Infektionen gibt, sollten so mehr Lockerungen möglich sein – und andersherum. „Uns ist bewusst, dass wir hier ein gewisses Risiko eingehen“, hatte Kretschmann dazu Anfang März in einer Sondersitzung des Landtags gesagt. „Wir wollen in den Regionen, in denen eine niedrigere Inzidenz herrscht, ein wenig mehr Normalität für die Menschen dort ermöglichen.“Er setze dabei auf die Vernunft der Menschen. Die Kreise selbst sollten eine mögliche Öffnung noch mal prüfen und sich auch mit ihren Nachbarkreisen abstimmen.
Daran hatte es bereits damals vor allem vonseiten der Landkreise heftige Kritik gegeben. „Wie soll denn das alles funktionieren?“, fragte etwa der Biberacher Landrat Heiko Schmid. „Der Landkreis Biberach hat alleine vier direkte Nachbarlandkreise
in Baden-Württemberg, darüber hinaus grenzen wir an Bayern. Die Vorstellung, dass die Landkreise untereinander Absprachen bezüglich der Öffnungen treffen, halte ich für sehr schwierig und auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr vermittelbar“, sagte er Anfang März. Er forderte stattdessen eine einfache und für alle nachvollziehbare Lösung.
So sieht das auch der Landkreistag, der Zusammenschluss der baden-württembergischen Landkreise. „Die jüngsten Erfahrungen bestärken uns als Landkreistag in unserer kritischen Haltung im Hinblick auf kreisbezogene Öffnungen und Schließungen“, sagt Hauptgeschäftsführer Alexis von Komorowski auf Anfrage. Es gebe letztlich ein landesweites Infektionsgeschehen, „das aktuell besonders durch die im Vergleich ansteckenderen und aggressiveren Coronavirus-Mutanten geprägt wird“. Daher plädiere der Landkreistag schon aus Akzeptanzgründen dafür, die coronabedingten Maßnahmen landeseinheitlich zu regeln und auch die Sonderregelungen für HotspotLandkreise durch Landesverordnung allgemeinverbindlich festzulegen.
Für Markus Moll vom Landratsamt Main-Tauber-Kreis, einem Nachbarkreis von Schwäbisch Hall, kam die Regelung womöglich einfach zu früh: „Aus unserer Sicht muss die Frage erlaubt sein, ob das Stufenkonzept mit zeitlich gestaffelten Öffnungsschritten und kreisspezifischen Regelungen je nach örtlicher Inzidenz nicht deutlich verfrüht umgesetzt wurde“, sagt er. Dass auch im Main-Tauber-Kreis die Infektionszahlen steigen, führt er einerseits auf die Verbreitung der hochansteckenden britischen Virusmutation, andererseits auf eine „zunehmende Leichtfertigkeit sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich“zurück. Der Main-TauberKreis kommt Kretschmanns Ankündigung deshalb zuvor: Von Montag an soll auch hier die Notbremse gelten.
Während die Kreise jetzt auf eine Ansage aus Stuttgart warten, bereiten sich einige weiterhin auch auf Öffnungen vor. Der Landkreis Tuttlingen und der Bodenseekreis etwa setzen dabei auf die App „Luca“. Mit der Anwendung kann beim Besuch von Restaurants, Kneipen und Hotels ein QR-Code gescannt werden. Dadurch wird ein Eintrag in einem virtuellen Gästebuch generiert. Wird der Besucher später positiv auf das Coronavirus getestet, kann er dies über die App melden. Das Gesundheitsamt kann dann über das virtuelle Gästebuch die Kontakte im relevanten Zeitraum nachverfolgen.
Doch angesichts steigender Infektionszahlen kann es noch eine ganze Weile dauern, bis die App tatsächlich in Kneipen, Restaurants und bei Veranstaltungen genutzt werden kann. Welche Regeln künftig im Land gelten, soll Anfang nächster Woche feststehen. Kretschmanns Sprecher Rudi Hoogvliet sagte auf Anfrage: „Wir beobachten die Entwicklungen mit großer Sorge. Wir wollen jedoch erst die Ergebnisse der Ministerpräsidentenkonferenz am Montag abwarten. Danach sehen wir weiter.“
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