Die Abhängigkeit der Welt
Vetter profitiert davon, dass die globale Pharmabranche auf den oberschwäbischen Abfüller angewiesen ist
RAVENSBURG - Neu ist die Erkenntnis nicht, die Corona-Pandemie hat jedoch dazu geführt, dass sie jenseits der Vorstandsetagen und ÖkonomieLehrstühle diskutiert wird: Die Weltwirtschaft ist mehr denn je abhängig von dem Funktionieren der internationalen Lieferketten. Die Erfahrung der vergangenen Wochen zeigt, dass ganze Industrien zum Erliegen kommen, wenn Rohstoffe, Bauteile oder Vorprodukte nicht mehr oder viel zu spät ankommen. In anderen Bereichen fehlen wichtige Güter, die nicht mehr in Deutschland und Europa, sondern nur noch in anderen Teilen der Welt hergestellt werden.
Für den oberschwäbischen Pharma-Dienstleister Vetter trifft das in gegensätzlicher Weise zu: Viele der weltweit wichtigsten Arzneimittelhersteller sind auf den Service des Unternehmens aus Ravensburg angewiesen. Stockt die Produktion am Stammsitz und im Werk in Langenargen am Bodensee und stehen die Abfüllanlagen still, in denen Vetter die von Pharmaunternehmen hergestellten Wirkstoffe zumeist in keimfreie Spritzensysteme abfüllt, „würden diese Medikamente fast überall auf der Welt fehlen“, wie Vetter-Vorstand Thomas Otto im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“erläutert. „Unsere Kunden sind die großen Pharmafirmen, viele Wirkstoffe werden nur hier von uns abgefüllt und dann über unsere Kunden in aller Welt verteilt.“
Für viele Mittel gegen Leiden wie Krebs, Multiple Sklerose, Arthritis, Osteoporose,
Diabetes oder Kinder-Alzheimer gebe es außer Vetter keine anderen Abfüller. „Wenn da die Patienten die Medikamente nicht bekommen, droht ihnen im schlimmsten Fall der Tod oder eine schwere Verschlechterung ihrer Gesundheit“, sagt Otto. Für das Ravensburger Unternehmen ist die Sicherstellung der internationalen Lieferketten deshalb nicht nur aus eigennützigen Gründen von grundlegender Bedeutung.
Die Wirkstoffe, die Vetter abfüllt, kommen zumeist per Luftfracht am Flughafen in Frankfurt an und werden dann per Lieferwagen nach Ravensburg gefahren. Die fertig abgefüllten Spritzen gehen im Anschluss wieder per Lastwagen zum Flughafen nach Frankfurt. Dafür unterhält Vetter eine große Anzahl von Containern,
die sowohl gekühlt als auch beheizt werden können, da viele Produkte bestimmte Temperaturen benötigen, die sowohl im Flugzeug als auch auf der Autobahn immer konstant die gleiche sein muss. Sind die Medikamente für Europa bestimmt, bringen sie Lastwagen in die europäischen Verteilzentren. „Da haben wir in diesen Tagen vereinzelt gehört, dass ein Transport mal zwei Tage statt sechs Stunden gebraucht hat, aber das ist nicht so problematisch“, sagt der Vetter-Vorstand.
Für Otto ist die Abhängigkeit vieler Pharmakonzerne von dem Unternehmen, das sich aus dem vom Apotheker Helmut Vetter 1945 gegründeten chemisch-pharmazeutischen Laboratorium Ravensburg entwickelt hat, Grundlage und Geschäftsprinzip gleichermaßen. Die Wirkstoffe zu entwickeln sei das eine, sie im industriellen Maße abzufüllen das andere. Schließlich gebe es Produkte, die zerfallen, wenn man sie schüttelt, andere seien allenfalls gefriergetrocknet oder unter besonderen Lichtverhältnissen haltbar. „Die Abfüllprozesse sind sehr komplex, wir entwickeln für Kunden die Anlagen und ermöglichen den Transfer von der klinischen Entwicklung in die kommerzielle Phase“, erklärt Otto. So hat das Unternehmen Vetter im vergangenen Jahr mit 4900 Mitarbeitern einen Umsatz von 696 Millionen Euro erzielt, das war ein Plus im Vergleich zu 2018 von 12,4 Prozent. Den Gewinn nennt Thomas Otto nicht, er sei auskömmlich, „wir kommen zurecht“.
Die Steigerungsraten erklärt Otto nicht zuletzt damit, dass die Medikamente und Wirkstoffe in den vergangenen Jahren immer spezifischer geworden sind. „Die Stückzahlen einzelner Produkte gehen zurück, das führt dazu, dass die Anforderungen an die Anlagen und die Fähigkeiten der Unternehmen, die die Medikamente abfüllen, steigen“, erklärt der Vorstand von Vetter. Der jedoch darauf hinweist, dass Vetter das Wachstum benötige, um die notwendigen Investitionen zu stemmen. Schließlich koste allein ein neuer Reinraum mit Infrastruktur bis zu 70 Millionen Euro. „Wir benötigen jedes Jahr 150 Millionen Euro für Investitionen, um das Unternehmen nach vorne zu treiben“, sagt Otto. Im Moment erweitere Vetter bis auf den Standort Langenargen alle Produktionsstätten. „Seit zwei Jahren arbeiten wir an einer Verdopplung der Kapazität“, erklärt Otto weiter.
Nach der Kapazitätserweiterung in Oberschwaben will Vetter den Ausbau in den USA weiter forcieren. In Des Plains bei Chicago hat Vetter eine Niederlassung. „Wenn wir die Kapazitätserweiterung in Oberschwaben abgeschlossen haben, werden wir mit der Vergrößerung der Entwicklungseinheit in den USA beginnen, die kommerzielle Fertigung dort folgt im Anschluss“, sagt Otto.
Die Tatsache, dass Pharmafirmen wie Roche und Novartis aus der Schweiz, Pfizer, Johnson & Johnson und Merck aus den USA und GlaxoSmith-Kline aus Großbritannien den Dienstleister Vetter für ihre Produkte benötigen, ist ein Zeichen für die immer weiter fortschreitende internationale Arbeitsteilung. Einer Arbeitsteilung, die in Krisen wie der derzeitigen Corona-Pandemie auch nicht ungefährlich sein kann, weil die Versorgungssicherheit der globalisierten Welt in einigen Bereichen auf dem Erfolg weniger Akteure beruht. Das sieht auch auch Vetter-Vorstand Otto. „Verschiedene Dinge komplett ins Ausland zu verlagern ohne Möglichkeiten der eigenen Herstellung, ist kritisch“, sagt Otto mit Blick auf die Antibiotika-Produktion und die Herstellung von Hauben, Masken und Schutzanzügen. Der Schluss, den Thomas Otto zieht, ist eindringlich. „In unseren Augen war Deutschland auf eine Pandemie wie die aktuelle nicht vorbereitet.“
Für den Pharmabereich führt Otto die fatale Abhängigkeit und die Entwicklung, die dazu geführt hat, auf die Rahmenbedingungen zurück. „Die Gesetzgebung hat dazu geführt, dass Deutschland, die frühere Apotheke der Welt, nur noch eine untergeordnete Rolle spielt“, sagt der Vetter-Vorstand. „In anderen Ländern können die Aufwendungen für die Entwicklung von Medikamenten abgeschrieben werden, bei uns nicht.“Die Folge: Big Pharma sitzt nicht mehr in Deutschland.
Für Vetter ist das kein Problem, solange die globalen Lieferketten des Unternehmens intakt sind. Und die stehen, erklärt Otto. „Unsere Kunden haben alles in Bewegung gesetzt, dass es da keine Unterbrechungen gegeben hat.“Teilweise haben Pharma-Unternehmen sogar nur ein einzelnes Flugzeug mit nur einem einzigen Produkt nach Frankfurt geschickt. Und viel abzuliefern hatte es nicht: Die Gebinde mit den Konzentraten sind oft nicht größer als drei bis fünf Kanister à zehn Liter.