Trossinger Zeitung

Wenn die Zähne einfach wegbröseln

Eine Ärztin erzählt, wie es um die Gesundheit kindlicher Gebisse bestellt ist

- Von Andrea Mertes

Silja Teller-Limberg kommt viel rum. Im Landkreis Ravensburg, aber auch in den Mundhöhlen der drei- bis zwölfjähri­gen Baden-Württember­ger. Im Auftrag des Gesundheit­samtes fährt die Schulzahnä­rztin durch den Landkreis, um den Zahnstatus der jüngsten Mitbürgeri­nnen und Mitbürger zu dokumentie­ren und sie über Zahnhygien­e aufzukläre­n. Mehr als 13 000 Kinder, vor allem in Kitas und Grundschul­en, haben sie und ihre Kollegen im Vorjahr vor der Untersuchu­ngslampe gehabt.

Gebohrt wird dabei nicht, lediglich der Ist-Stand kontrollie­rt. Zum Schluss gibt es einen Brief, der dem Kind versiegelt mitgegeben wird – für die Eltern zu Hause. Für Schüler ist die Teilnahme Pflicht, in Kindertage­sstätten ist sie freiwillig – ebenso wie die Prophylaxe­Programme mit Fluoridier­ung, die manche Schulen anbieten.

Wenn Teller-Limberg mit dem Spiegel durch den Mundraum ihrer kleinen Patienten fährt, sieht vieles ziemlich gut aus – und manches alarmieren­d. Während gut drei Viertel aller Kindergart­enkinder (78 Prozent) bei der Aufforderu­ng zu einem „Ah“gesunde Milchzähne präsentier­en, entdeckt die Ärztin bei den Grundschül­ern gehäuft Zahnkrankh­eiten. „22 Prozent haben ein saniertes Gebiss, und 25 Prozent weisen behandlung­sbedürftig­e Zähne auf.“Allerdings, fügt sie hinzu, war es vor 20 Jahren noch schlechter um die Zahnhygien­e bestellt: „Damals hatten 71 Prozent der Kinder behandlung­sbedürftig­e oder bereits sanierte Zähne.“ Zu viel Zucker und zu viel Nuckeln fördern die Karies Dank verbessert­er Zahnpflege haben Schulkinde­r heute seltener kariöse Zähne als ihre Eltern – das ist die gute Nachricht. Dass die Situation nicht noch besser ist, liegt an der Ernährung. Vor allem am Zucker. Nuckelflas­chenkaries hat in den vergangene­n Jahren stark zugenommen. Sie entsteht durch Trinkflasc­hen und das, was damit gerne verabreich­t wird: mit Honig oder Zucker gesüßte Tees oder Fruchtsäft­e. Durch das permanente Saugen werden die oberen Schneidezä­hne konstant mit süßen Getränken umspült – ein idealer Nährboden für Karies. Auch die beliebten Quetschies, Fruchtsäft­e in Quetschtüt­en, seien fatal, warnt die Schulzahnä­rztin: „Bitte geben Sie Ihren Kindern so etwas nicht.“

Und dann sind da noch jene Mundhöhlen, in denen die Zähne einfach wegbröseln: Die Rede ist von den sogenannte­n Kreidezähn­en. Die Deutsche Gesellscha­ft für Zahn-, Mundund Kieferheil­kunde (DGZMK) nennt das Phänomen eine neue Volkskrank­heit. Auch die Ravensburg­er Schulzahnä­rztin ist alarmiert: „Das hat gravierend zugenommen.“

Bei der Erkrankung, die im Fachjargon Molaren-InzisivenH­ypomineral­isation (MIH) heißt, zeigen die befallenen Zähne gelblich-bräunliche Verfärbung­en, eine poröse, zerfurchte Oberfläche und reagieren schmerzhaf­t auf äußere Reize wie Kälte und Zähneputze­n. In der schweren Form werden die Zähne so porös wie Kreide und können beim bloßen Kauen zerbröckel­n. Studien zufolge sollen etwa zehn bis 15 Prozent aller Kinder von der Erkrankung betroffen sein, bei den Zwölfjähri­gen hat sogar knapp jedes dritte Kind (30 Prozent) Kreidezähn­e. Volkskrank­heit Kreidezähn­e: Die Ursachen sind unklar Die Krankheit entsteht, weil die Mineralisa­tion des Zahnschmel­zes gestört ist. Woran das liegt, ist derzeit noch unklar. „Eine wesentlich­e Rolle bei der Entstehung scheinen Weichmache­r aus Kunststoff­en zu spielen, die mit der Nahrung aufgenomme­n werden“, schreibt die DGZMK in einer Mitteilung. In Tierversuc­hen ließ sich ein Zusammenha­ng mit der Kunststoff-Chemikalie Bisphenol A feststelle­n. Denkbar seien außerdem Probleme während der Schwangers­chaft, Infektions­krankheite­n, Antibiotik­a, Windpocken oder Dioxine als Ursachen. In vielen Fällen helfe eine Versiegelu­ng oder eine Füllung, um einen MIH-Zahn zu erhalten. Unbedingt nötig sind Teller-Limberg zufolge regelmäßig­e Fluoridier­ungen und engmaschig­e Kontrollen, um den Zahn möglichst lange zu bewahren.

Um betroffene Kinder besser zu erreichen, plädieren die großen Zahnarzt-Organisati­onen wie die Kassenzahn­ärztliche Bundesvere­inigung oder die Bundeszahn­ärztekamme­r seit einigen Jahren für ein neues Konzept. Sie wollen die Kontrolle des frühkindli­chen Gebisses in ihren Aufgabenbe­reich verlagern. Derzeit sei dies von den Krankenkas­sen erst ab einem Alter von 30 Monaten vorgesehen. Bis dahin sind die Kinderärzt­e zuständig.

Auch Silja Teller-Limberg würde gerne noch mehr tun. Doch sie weiß: Diejenigen, die dringend ihre Unterstütz­ung brauchen, erreicht sie oft gar nicht – nämlich die Eltern. „Die bekomme ich als Schulzahnä­rztin ja nicht zu sehen.“

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FOTO: COLOURBOX Bitte lächeln: Ein gepflegtes Milchgebis­s erleichter­t den Zahnwechse­l.

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