Wenn die Zähne einfach wegbröseln
Eine Ärztin erzählt, wie es um die Gesundheit kindlicher Gebisse bestellt ist
Silja Teller-Limberg kommt viel rum. Im Landkreis Ravensburg, aber auch in den Mundhöhlen der drei- bis zwölfjährigen Baden-Württemberger. Im Auftrag des Gesundheitsamtes fährt die Schulzahnärztin durch den Landkreis, um den Zahnstatus der jüngsten Mitbürgerinnen und Mitbürger zu dokumentieren und sie über Zahnhygiene aufzuklären. Mehr als 13 000 Kinder, vor allem in Kitas und Grundschulen, haben sie und ihre Kollegen im Vorjahr vor der Untersuchungslampe gehabt.
Gebohrt wird dabei nicht, lediglich der Ist-Stand kontrolliert. Zum Schluss gibt es einen Brief, der dem Kind versiegelt mitgegeben wird – für die Eltern zu Hause. Für Schüler ist die Teilnahme Pflicht, in Kindertagesstätten ist sie freiwillig – ebenso wie die ProphylaxeProgramme mit Fluoridierung, die manche Schulen anbieten.
Wenn Teller-Limberg mit dem Spiegel durch den Mundraum ihrer kleinen Patienten fährt, sieht vieles ziemlich gut aus – und manches alarmierend. Während gut drei Viertel aller Kindergartenkinder (78 Prozent) bei der Aufforderung zu einem „Ah“gesunde Milchzähne präsentieren, entdeckt die Ärztin bei den Grundschülern gehäuft Zahnkrankheiten. „22 Prozent haben ein saniertes Gebiss, und 25 Prozent weisen behandlungsbedürftige Zähne auf.“Allerdings, fügt sie hinzu, war es vor 20 Jahren noch schlechter um die Zahnhygiene bestellt: „Damals hatten 71 Prozent der Kinder behandlungsbedürftige oder bereits sanierte Zähne.“ Zu viel Zucker und zu viel Nuckeln fördern die Karies Dank verbesserter Zahnpflege haben Schulkinder heute seltener kariöse Zähne als ihre Eltern – das ist die gute Nachricht. Dass die Situation nicht noch besser ist, liegt an der Ernährung. Vor allem am Zucker. Nuckelflaschenkaries hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Sie entsteht durch Trinkflaschen und das, was damit gerne verabreicht wird: mit Honig oder Zucker gesüßte Tees oder Fruchtsäfte. Durch das permanente Saugen werden die oberen Schneidezähne konstant mit süßen Getränken umspült – ein idealer Nährboden für Karies. Auch die beliebten Quetschies, Fruchtsäfte in Quetschtüten, seien fatal, warnt die Schulzahnärztin: „Bitte geben Sie Ihren Kindern so etwas nicht.“
Und dann sind da noch jene Mundhöhlen, in denen die Zähne einfach wegbröseln: Die Rede ist von den sogenannten Kreidezähnen. Die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde (DGZMK) nennt das Phänomen eine neue Volkskrankheit. Auch die Ravensburger Schulzahnärztin ist alarmiert: „Das hat gravierend zugenommen.“
Bei der Erkrankung, die im Fachjargon Molaren-InzisivenHypomineralisation (MIH) heißt, zeigen die befallenen Zähne gelblich-bräunliche Verfärbungen, eine poröse, zerfurchte Oberfläche und reagieren schmerzhaft auf äußere Reize wie Kälte und Zähneputzen. In der schweren Form werden die Zähne so porös wie Kreide und können beim bloßen Kauen zerbröckeln. Studien zufolge sollen etwa zehn bis 15 Prozent aller Kinder von der Erkrankung betroffen sein, bei den Zwölfjährigen hat sogar knapp jedes dritte Kind (30 Prozent) Kreidezähne. Volkskrankheit Kreidezähne: Die Ursachen sind unklar Die Krankheit entsteht, weil die Mineralisation des Zahnschmelzes gestört ist. Woran das liegt, ist derzeit noch unklar. „Eine wesentliche Rolle bei der Entstehung scheinen Weichmacher aus Kunststoffen zu spielen, die mit der Nahrung aufgenommen werden“, schreibt die DGZMK in einer Mitteilung. In Tierversuchen ließ sich ein Zusammenhang mit der Kunststoff-Chemikalie Bisphenol A feststellen. Denkbar seien außerdem Probleme während der Schwangerschaft, Infektionskrankheiten, Antibiotika, Windpocken oder Dioxine als Ursachen. In vielen Fällen helfe eine Versiegelung oder eine Füllung, um einen MIH-Zahn zu erhalten. Unbedingt nötig sind Teller-Limberg zufolge regelmäßige Fluoridierungen und engmaschige Kontrollen, um den Zahn möglichst lange zu bewahren.
Um betroffene Kinder besser zu erreichen, plädieren die großen Zahnarzt-Organisationen wie die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung oder die Bundeszahnärztekammer seit einigen Jahren für ein neues Konzept. Sie wollen die Kontrolle des frühkindlichen Gebisses in ihren Aufgabenbereich verlagern. Derzeit sei dies von den Krankenkassen erst ab einem Alter von 30 Monaten vorgesehen. Bis dahin sind die Kinderärzte zuständig.
Auch Silja Teller-Limberg würde gerne noch mehr tun. Doch sie weiß: Diejenigen, die dringend ihre Unterstützung brauchen, erreicht sie oft gar nicht – nämlich die Eltern. „Die bekomme ich als Schulzahnärztin ja nicht zu sehen.“