Wo der Parkettboden Alarm schlägt und die Toilette den Puls misst
In Kempten wird an der Seniorenwohnung der Zukunft geforscht – Neue Technologien können dabei helfen, dass man auch im Alter noch selbstbestimmt leben kann
KEMPTEN (dpa) - Die Schranktüren öffnen sich automatisch, Kleiderstangen mit Hemden fahren heraus. In Seniorenwohnungen der Zukunft soll die Technik das Leben im Alter unterstützen und Pfleger entlasten. In der Küche sind Herd, Arbeitsfläche, Spüle und Schränke höhenverstellbar. Ein Knopfdruck genügt, und sie fahren herunter, so dass auch Rollstuhlfahrer alles problemlos erreichen können. Fallen Krümel auf den Boden, kommt der Staubsaugerroboter. Fehlt Milch und Butter im Kühlschrank, ordert ein intelligentes Bestellsystem die Lebensmittel im nahegelegenen Supermarkt.
„In zehn bis fünfzehn Jahren ist das Normalität“, glaubt Ingenieur Alexander Karl von der Hochschule Kempten. „Es muss normal sein.“Karl spielt auf die alternde Gesellschaft an. Laut Statistischem Bundesamt ist in Deutschland bereits jeder Fünfte mindestens 65 Jahre alt. Viele Senioren wünschen sich, möglichst lange selbstständig in den eigenen vier Wänden zu leben. Karl will das ermöglichen.
Im dritten Stock einer Seniorenwohnanlage hat die Hochschule Kempten eine Forschungswohnung angemietet: Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer. Auf 55 Quadratmeter testen Studenten und Ingenieure Prototypen und entwickeln „intelligente Assistenztechnik“. Raffinierte Details verstecken sich hinter Schränken, unterm Fußboden, an der Wand oder in Möbeln. Karl betritt das Wohnzimmer und greift nach einem menschengroßen Fleece. Er wirft die Attrappe auf den Boden. Es dauert zwanzig Sekunden und eine Signallampe leuchtet rot. Der Alarm wird an eine Notrufstelle, den Pflegedienst oder Nachbarn weitergeleitet. „Unter dem Parkett ist ein Sensor eingebaut, der alle Bewegungen erfasst. Die Bewohner können selbst bestimmen, nach wie vielen Sekunden der Alarm ausgelöst und an wen er gesendet wird“, erklärt Karl. Toilette an Hausarzt: Bitte melden Im Badezimmer ist eine „intelligente Toilette“installiert. Tritt man davor, fährt der Deckel nach oben, die Sitzheizung auf der Klobrille wird aktiviert. Weder Klopapier ist notwendig, noch müssen Pfleger unliebsame Aufgaben übernehmen: Ein feiner Wasserstrahl reinigt, der eingebaute Fön trocknet. Stützt man sich auf die Armlehnen links und rechts, entsteht ein EKG. Sie messen Blutdruck, Puls, Blutzucker und Sauerstoffsättigung. Die Daten erscheinen auf einem Flachbildschirm neben der Toilette und können direkt an den Hausarzt geschickt werden. Sind sie auffällig, meldet dieser sich zurück.
Was praktisch klingt, birgt auch Risiken: Für die Datenübertragung ist der Sensor mit dem Internet verbunden, alle Werte werden in einer Cloud gespeichert – eine Angriffsfläche für Hacker. „Der Router ist immer eine Schwachstelle, die gerne angegriffen wird. Vor allem medizinische Daten sind ein wertvolles Gut“, sagt Professor Georg Sigl vom Lehrstuhl für Sicherheit in der Informationstechnik der TU München. Bereits das Handy des Enkels, das sich ins WLAN einwählt, stelle ein Sicherheitsrisiko dar. Hacker können nicht nur Daten stehlen und diese profitabel an Firmen verkaufen, sondern sich Zugang zur Wohnung verschaffen. Erpressungen wie: „Zahlen Sie 10 000 Euro, ansonsten schalte ich Ihren Notfallknopf aus“, seien denkbar. Zudem können DarknetMarktplätze für Einbrüche entstehen, die Wohnungen überwachen und auflisten, wann eine Person zu Hause ist und wann nicht.
Zusammen mit dem FraunhoferInstitut für Angewandte und Integrierte Sicherheit berät Sigl Entwickler und weiß, dass die Priorität vieler Smart-Home-Unternehmen ist, sich schnell auf dem Markt zu etablieren: „IT-Sicherheit ist bei Herstellern oft zweitrangig.“Sigl rät, sich von Anfang an Gedanken über die Sicherheit zu machen. Mindeststandard sollten Geräte sein, die nur starke Passwörter zulassen, sichere Schlüsselspeicher haben und regelmäßige Updates durchführen. „Sicherheit muss wehtun – wenn es nicht wehtut, bringt es nichts“, sagt Sigl.
Die Reaktion auf technische Assistenzsysteme sei bei Senioren bisher sehr unterschiedlich, sagt Alexander Karl. Allerdings weniger wegen der Angst um die Privatsphäre. Vielmehr sei es die Bedienung der Geräte, die Senioren zu schaffen mache. Doch auch in dieser Hinsicht bleibt der Laboringenieur zuversichtlich: „Ich hatte kürzlich eine 95Jährige hier, die sagte, so ein Wischding brauche sie nicht. Ein paar Minuten später steuerte sie damit voller Freude die komplette Wohnung.“