Das Kreuz mit dem Rücken
Die Wirtschaft verliert Milliarden durch Rückenschmerzen – und was dagegen zu tun ist
RAVENSBURG/MESSSTETTEN - Der Südwesten hat Rücken. Was der Volksmund so flapsig daher sagt ist für viele Mitarbeiter und Unternehmen bitterer Ernst. Insbesondere in der Bürowelt von heute prägt dauerhaftes Sitzen den Arbeitsalltag. Angestellte verbringen bis zu 70 Prozent ihres Arbeitstages im Sitzen – obwohl Rückenleiden als unmittelbare Folge dieser Körperhaltung Krankheitsursache Nummer 1 sind. Die Beschwerden sind der häufigste Grund für Krankschreibungen und für rund 40 Prozent aller Rehamaßnahmen verantwortlich.
Auswertungen der AOK BadenWürttemberg haben ergeben, dass 2017 von den 33,2 Millionen Fehltagen der Kassenmitglieder mehr als ein Fünftel auf das Konto von Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes gingen. Ein Grund dafür: das ständige Sitzen und die dabei eingenommenen Fehlhaltungen. „Das belastet die Wirbelsäule und schwächt auf Dauer die Rückenmuskulatur, was zu Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen führen kann“, sagt Sabine Knapstein, Ärztin und Psychologin bei der AOK Baden-Württemberg.
Neben dem persönlichen Leid und dem Verlust an Lebensqualität der Betroffenen führen krankheitsbedingte Ausfälle durch Rückenleiden auch in den Unternehmen zu hohen Kosten – allen voran die Lohnfortzahlungen bis zu einer Dauer von sechs Wochen. Weitere Kosten entstehen durch den vorübergehenden Ausfall eines Mitarbeiters: Die Ersatzkraft, die zusätzlich bezahlt wird, muss sich zunächst in die Aufgabe einarbeiten, auch das kostet Zeit und damit Geld – andernfalls droht ein zusätzlicher Produktionsausfall. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schätzt, das Muskel-SkelettErkrankungen für jährliche Produktionsausfälle in Höhe von 17 Milliarden Euro verantwortlich zeichnen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Digitalisierung, die immer mehr Menschen in sitzende Tätigkeiten zwingt, werden die ohnehin hohen krankheitsbedingten Kosten in den nächsten Jahren wohl weiter zunehmen. Prävention Fehlanzeige In etlichen Unternehmen hat man das Problem inzwischen erkannt und steuert um. Doch Brigitte Ganzmann, Sporttherapeutin und Inhaberin der Beratung BGM Lotsen aus Ravensburg, weiß: Firmen, die das Thema präventiv angehen, sind noch immer Ausnahme denn Regel. „Meist wird erst dann reagiert, wenn der Betroffene über Schmerzen am Arbeitsplatz klagt“, sagt Ganzmann, die eine Reihe von Firmen und Kommunen in Oberschwaben im Bereich Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement berät.
Dabei lohnt sich präventive betriebliche Gesundheitsförderung. Daten aus vielen Studien belegen: Die krankheitsbedingten Fehlzeiten sinken um durchschnittlich ein Viertel. Auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist deutlich positiv. Mit jedem investierten Euro können im Ergebnis 2,70 Euro durch reduzierte Fehlzeiten eingespart werden. Und obendrein beteiligt sich der Fiskus: Unternehmen können gesundheitsfördernde Maßnahmen mit bis zu 500 Euro pro Mitarbeiter und Jahr von der Steuer absetzen.
Der Erfolg von betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) bleibt dennoch bescheiden. Nach Angaben der AOK Baden-Württemberg wurden 2017 zwar circa 2500 BGM-Maßnahmen durchgeführt. Doch mit durchschnittlichen Teilnehmerquoten von zehn bis 20 Prozent erreichen die klassischen Maßnahmen häufig nur die bereits aktiven, gesunden Mitarbeiter. Die Mitarbeiter, die es nötig haben, bleiben oft außen vor. Brigitte Ganzmann hat eine Theorie, warum das so ist: „Rückenbeschwerden sind, im Gegensatz zu psychischen Erkrankungen, ein gesellschaftlich legitimes Phänomen.“
Neue Möglichkeiten im Kampf gegen den Risikofaktor Sitzen bietet die Digitalisierung. Der Bürostuhlhersteller Interstuhl aus MeßstettenTieringen (Zollernalbkreis) etwa hat mit dem Navigationsspezialisten Garmin einen digitalen Coach für aktives Sitzen entwickelt. Dabei handelt es sich um einen Sensor, der, am Stuhl montiert und mit dem Rechner drahtlos verbunden, nach 20-minütigem ruhigem Sitzen den Mitarbeiter per Meldung auf dem Bildschirm auffordert, aufzustehen. „Das kann schon etwas nervig sein“, gibt Interstuhl-Co-Chef Helmut Link zu, und formuliert das Ziel der Bürostuhlspezialisten von der Schwäbischen Alb: Einen möglichst großen Teil der täglich notwendigen Bewegung bereits im Job zu ermöglichen. Selbst im Sitzen. Interstuhl hat dafür einen Stuhl entwickelt, der sehr große Bewegungsradien ermöglichen und dennoch dem Körper genügend Halt geben soll – der Bürostuhl als Trainingsgerät.
Damit ist Interstuhl nicht alleine. Moderne Bürokonzepte, sagt Eckart Maise, Designchef beim schweizerischen Möbelbauer Vitra, würden immer mehr Bewegung der Mitarbeiter einfordern. Das heißt, dass der Drucker eben nicht neben dem Arbeitsplatz steht, sondern abseits. Und das heißt, dass Besprechungen eben nicht sitzend im Konferenzraum sondern stehend an Hochtischen veranstaltet werden. Mit dem Vordringen von kabellosen Tablet-Computern im Büroalltag bieten sich den Unternehmen im Kampf gegen den Risikofaktor Sitzen zudem ganz neue Perspektiven. „Das kann zu einer Befreiung führen und ermöglicht, Bewegung in den Arbeitsalltag zu integrieren“, sagt Maise. In Unternehmen, die das konsequent berücksichtigten, sei die Zeit des dauerhaften Sitzens vorbei. Tödliche Inaktivität Ingo Froböse, Professor für Prävention und Rehabilitation im Sport an der Deutschen Sporthochschule in Köln, geht das aber nicht weit genug. „Wir müssen deutlich mehr Bewegung in die Büros bringen – und das schaffen wir nicht mit innovativer Büroausstattung“, fordert der Fitness-Experte. Zumal Büromöbelkonzepte wie flexible Steh-Sitz-Arbeitsplätze oftmals gar nicht genutzt würden. Selbst an der korrekten Einstellung des Bürostuhls hapert es Froböse zufolge in der Praxis. Er rät stattdessen, wieder öfters die Treppe statt den Fahrstuhl zu nutzen, sich in der Mittagspause gezielt zu belasten oder – an die Adresse der Firmen gerichtet – den Mitarbeitern Alternativen für den Weg zur Arbeit schmackhaft zu machen, etwa durch Dienstfahrräder.
Nur noch 15 Prozent der Menschen, so Froböse, würden heute ausreichend körperlich aktiv werden. Dem Sportmediziner zufolge sind das 150 Minuten in der Woche, in denen „eine etwas höhere Herzund Atemfrequenz erreicht wird“. Die Konsequenz dieser Inaktivität: Rückenschmerzen, Stoffwechselerkrankungen, Bluthochdruck und psychische Leiden. Nach 45 bis 60 Minuten Sitzen am Stück sei der Kreislauf so reduziert, dass die Zellen unterversorgt sind, so Froböse. „Für mich ist Sitzen das zweite Rauchen. Vielleicht sogar schlimmer.“
Er appelliert an die Firmen, die Thematik beherzter anzugehen: „Die Unternehmen haben schließlich eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeitern.“Zudem gehe eine gute Gesundheitsprävention mit einem Imagegewinn einher. Im Wettbewerb um Talente und Vollbeschäftigung im Südwesten ein nicht zu unterschätzendes Pfund.