Kanadierin Atwood erhält Friedenspreis
Margaret Atwood appelliert in ihrer Friedenspreisrede an das Verantwortungsgefühl
FRANKFURT (KNA) - Schriftstellerin Margaret Atwood ist am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. In ihrer Rede sagte die Kanadierin, dass Schriftsteller wichtige Aufgaben hätten in einem „seltsamen historischen Augenblick“. Sie sollten „vor den Mächtigen die Wahrheit aussprechen“und „den Stimmlosen eine Stimme geben“.
FRANKFURT (epd) - Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood ist am Sonntag in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, würdigte die 77-Jährige bei der Preisverleihung in der Paulskirche als Mahnerin für Frieden und Freiheit und als Kämpferin für eine demokratische und pluralistische Gesellschaft. Der Friedenspreis ist einer der bedeutendsten deutschen Kulturpreise; er wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Im vergangenen Jahr wurde die Berliner Philosophin und Publizistin Carolin Emcke geehrt.
Margaret Atwood zeige in ihren Werken immer wieder ihr „politisches Gespür und ihre Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen und Strömungen“, heißt es in der Begründung des Stiftungsrats. Als eine der bedeutendsten Erzählerinnen der Gegenwart stelle sie sich wandelnde Denk- und Verhaltensweisen ins Zentrum ihres Schaffens und lote sie in ihren „utopischen wie dystopischen Werken furchtlos aus“. Sie demonstriere dabei, wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann. „Humanität, Gerechtigkeitsstreben und Toleranz“prägten die Haltung Atwoods.
Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse nannte Atwood in ihrer Lobrede eine „immens kreative und produktive Autorin“. Ihr Werk sei von „tropischer Vielfalt“und reiche „von wie hingetupften autobiografischen Erzählungen zu aufwendig ausgestalteten Zukunftsromanen“. Die in den Wäldern Quebecs aufgewachsene Tochter eines Biologen sei eine Geschichtenerzählerin, die ihr Sensorium für die menschliche Natur und ihren politischen Verstand „als das Grundwasser nutzt, von dem sie diese Geschichten nährt“.
Menasse zeigte sich besonders beeindruckt von Atwoods erstem großen literarischen Erfolg, dem 1984 in West-Berlin entstandenen Roman „Der Report der Magd“. In ihm wird eine totalitäre Gesellschaft beschrieben, die Frauen als Gebärmaschinen benutzt und unterdrückt. Wegen neuer fundamentalistischer Tendenzen und nicht zuletzt eines US-Präsidenten, „der damit prahlt, wo er Frauen gern anfasst“, erlebe auch das verfilmte Werk in den USA gerade eine „fast unwahrscheinliche Renaissance“. Die Fernsehserie „The Handmaid's Tale - Der Report der Magd“läuft derzeit auch im deutschen Privatsender „Entertain TV“. Wider die Intoleranz Atwood nahm den Friedenspreis tief bewegt entgegen. Für eine Schriftstellerin aus einem Land wie Kanada, in dem das Schreiben und die Künste im Allgemeinen bis in die vergangenen Jahrzehnte hinein nicht ernst genommen worden seien, sei es nahezu „unbegreiflich“, mit dieser renommierten Auszeichnung geehrt zu werden.
Nach den Worten von Atwood erlebt die heutige Gesellschaft in einem „seltsamen historischen Augenblick“, in „Zeiten von Bedrohung und Wut“. „Wir wissen nicht genau, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr genau, wer wir sind“, sagte die 77-Jährige insbesondere unter Verweis auf die politische Situation in den USA. Jahrzehntelang hätten die USA im Kalten Krieg trotz aller Mängel als Symbol für Freiheit und Demokratie gegolten. Das sei vorbei. Jetzt sei plötzlich nach mehr als 30 Jahren auch wieder ihr Roman „Der Report der Magd“aktuell geworden. Von Männern kontrollierte Parlamente setzten sich zum Ziel, die Uhren zurückzudrehen – „am liebsten ins 19. Jahrhundert“.
Auch Großbritannien mache mit dem geplanten Brexit schwierige Zeiten durch. Dasselbe gelte, in Anbetracht der jüngsten Wahlergebnisse, auch für Deutschland.
Nach Auffassung von Atwood hat jedes Land neben einem „Alltags-Ich“ein verborgenes, viel weniger tugendhaftes Ich, „das in Augenblicken der Bedrohung und Wut hervorbrechen und unsägliche Dinge tun kann“. Angestachelt werde es etwa vom wirtschaftlichen Ungleichgewicht, der Automatisierung, dem Internet sowie „der Manipulation von Nachrichten und Meinungen durch ein paar Opportunisten zu ihren Gunsten“. Angesichts des gespannten gesellschaftlichen Klimas, sozialer Ungerechtigkeit und der zunehmenden Bedrohung von Umwelt und Natur müssten sich die Bürger überall dieselbe Frage stellen, nämlich in was für einer Welt sie leben wollten.
Die am 18. November 1939 in Ottawa geborene Atwood studierte in Toronto und Cambridge/Massachusetts Englisch und Literatur. Erste Gedichte veröffentlichte sie in den frühen 1960er Jahren, seit 1964 arbeitete sie als Literaturwissenschaftlerin an verschiedenen Universitäten. Atwood schrieb Lyrik, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Essays und Kinderbücher. Vor allem aber veröffentlichte sie Romane: „Die essbare Frau“(1969), „Der lange Traum“(1972), „Der Report der Magd“(1985), „Oryx und Crake“(2003), „Das Jahr der Flut“(2009), „Die Geschichte von Zeb“(2013) und zuletzt „Hexensaat“(2016).
Atwood wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, unter anderem mit dem Booker Prize for Fiction (2000), dem Nelly-Sachs-Preis (2009), dem Canadian Booksellers' Lifetime Achievement Award (2012) und dem PEN Printer Prize (2016). Sie lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Graeme Gibson, in Toronto.