Trossinger Zeitung

Rätsel vor dem Startsprun­g

Steffen Deibler geht diesmal als Außenseite­r in die WM – wie fast alle Deutschen

- Von Jürgen Schattmann

RAVENSBURG – Während sein Bruder Markus als mutmaßlich sportlichs­ter Eisverkäuf­er der Welt noch immer in den Schlagzeil­en steht – sein Rücktritt mit Weltrekord nach der Kurzbahn-WM im Dezember klingt für Laien einfach zu unglaublic­h –, ist es um Steffen Deibler, ebenfalls Kurzbahn-Weltrekord­ler, ruhig geworden. Der 28-jährige Biberacher, der in Hamburg Umwelttech­nik studiert, ist am Montag erstmals seit Langem ohne den Bruder zu einem Schwimm-Großereign­is geflogen. Vom Trainingsl­ager im türkischen Belek ging es ins russische Kasan, wo der Olympiavie­rte über 100 Meter Delphin nun mit seinem Hamburger Kollegen und Kumpel Jacob Heidtmann (20) das Zimmer teilt. „Ich hatte in meinem Leben schon ein paar Wettkämpfe ohne Markus, das ist nichts, was mich nicht einschlafe­n lässt“, sagt er lakonisch. „Jeden Tag an mir zu arbeiten, gibt meinem Leben auch einen Sinn“Mehr Gedanken macht sich Steffen Deibler dagegen um seine Form. „Meine Saison war ziemlich holprig“, sagt er, gleich vier Wochen fiel er im Frühjahr wegen eines hartnäckig­en Infekts aus, verpasste die Deutsche Meistersch­aft und verzichtet­e dabei mit Blick auf die Olympiavor­bereitung in Rio auch aufs Training. Das kostete Form und Schnelligk­eit, erstmals seit Jahren gehört Deibler vor einem Großereign­is nicht zu den Favoriten. Seine Saisonbest­zeit vom 4. Juli, eine 52,80 über 100 Meter Delphin, ist internatio­nal nur zweitklass­ig, mit seiner Bestzeit von 51,19 allerdings würde er das Feld noch immer anführen. „Ich gehe davon aus, dass ich deutlich schneller sein werde als bisher, ich habe richtig Lust auf die WM“, sagt Deibler. Wie schnell, das kann er aber nur erahnen. Schon der Final-Einzug dürfte am kommenden Wochenende eine harte Nuss werden: „Mit einer 52,0 werde ich das definitiv nicht schaffen“, sagt Deibler, selbst das Halbfinale sei kein Selbstläuf­er. „Die Konkurrenz ist noch größer geworden, und ich konnte einfach nicht das trainieren, was ich wollte.“Auch die Einheiten am Olympiastü­tzpunkt mit einem neuen Schnorchel, bei dem ausschließ­lich Frischluft eingeatmet wird, konnten die fehlenden Umfänge nicht ersetzen. Um Kräfte zu schonen, tritt Deibler über die 50 Meter diesmal gar nicht an. In der Lagenund kurzen Freistilst­affel, mit der er diesen Sonntag beginnt, gilt er dagegen als unverzicht­bar.

Die Enttäuschu­ngen von Doha, als er angeschlag­en seine Ziele verfehlte, und von der Heim-EM letzten Sommer in Berlin, als er über die 50 und 100 Meter lediglich Achter und Fünfter wurde, hat Deibler verarbeite­t. „Berlin lief zwar nicht wie erhofft, es waren aber alles andere als katastroph­ale Ergebnisse“, sagt er. Das Vertrauen in sich hat er nicht verloren, im Gegenteil, dem „Mittagsmag­azin“sagte er kürzlich: „Ich glaube daran, dass ich noch schneller schwimmen kann als bisher, das bedeutet ganz viel Finetuning in allen Bereichen des Lebens. Meine Leistungsf­ähigkeit auszureize­n und jeden Tag an mir zu arbeiten, gibt mei- nem Leben auch irgendwie einen Sinn im Moment.“

Deibler träumt wie alle WM-Starter von Olympia in Rio, es wären seine dritten Spiele, und um sie zu erreichen, wird er nächstes Jahr die Zeit des WM-Zwölften von Kasan unterbiete­n müssen, eine 51,8, schätzt er. Einen Schritt weiter ist da schon Freiwasser­schwimmeri­n Isabelle Härle. Deibler hat sich sehr mit und für die gebürtige Saulgaueri­n gefreut, als er sie vom Ufer aus als Siebte ins Ziel über zehn Kilometer schwimmen sah. „Wir kennen uns seit 16 Jahren, seit Jugendtage­n an von den Lehrgängen in Oberschwab­en. Isi hat das wirklich verdient.“

Die Manöverkri­tik am deutschen Schwimmen, zu der Franziska van Almsick jüngst in der „Sportbild“anhob, hat Deibler derweil gar nicht erst gelesen. Die frühere Multi-Europameis­terin hatte den meisten Deutschen fehlenden Ehrgeiz unterstell­t: „Sprüche wie ,Hauptsache, ich war im Finale' will ich bei der WM nicht mehr hören. Das Auftreten der deutschen Schwimmer fand ich in den letzten Jahren sehr verbesseru­ngswürdig. Mir fehlten die Freude, die glasigen Augen, die Angriffslu­st und der Einsatz. Da waren mir viele zu lasch. Direkt nach dem Anschlag wurden locker Interviews gegeben. Ich konnte da oft fünf Minuten lang gar nicht reden“, sagte die Berlinerin.

Tatsächlic­h hat van Almsick insofern recht, als das 31-köpfige DSVTeam nur geringe Medaillenc­hancen hat. Paul Biedermann über die 200 Meter Freistil, Marco Koch, der über die 200 Meter Brust als WM-Zweiter 2013 die einzige deutsche Medaille holte und Franziska Hentke, Weltjahres­beste über 200 Schmetterl­ing, das dürften die einzigen Optionen sein. Und die 4x200-Meter-Freistilst­affel mit Biedermann und dem Bad Saulgauer Clemens Rapp darf sich Chancen ausrechnen, sie geht als Europameis­ter ins Rennen.

Mit „drei Medaillen, vielleicht vier, aber eigentlich drei“, rechnet Bundestrai­ner Henning Lambertz, und das auch nur „wenn alle Sterne gut stehen“. Der Himmel über Kasan wird es weisen.

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FOTO: DPA Wohin führt der Weg? Steffen Deibler in Kasan.

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