So sieht Schule der Zukunft in TrierWest aus
Wochenplan über Handy, Lernen nach Laune und mehr Eigenverantwortung: Die Kurfürst-Balduin-Realschule plus in Trier ist eine „Schule der Zukunft“. Das macht sie nicht nur einmalig in der Schullandschaft der Region Trier, sondern auch bundesweit. Was sie a
Stell dir vor, es ist Schule – und alle wollen lernen. Das stellt man sich landläufig gerade in einem Brennpunktviertel wie dem Trierer Stadtteil West besonders schwierig vor. Höhere Bevölkerungsanteile mit Arbeitslosigkeit, mit Migration, mit sozialer Förderung als anderswo: Hier ist Bildung nicht immer automatisch wichtig und selbstverständlich.
Doch die Kurfürst-Balduin-Realschule plus denkt Schule neu – und ist mit ihrem Schulentwicklungsplan deshalb vom Land Rheinland-Pfalz zu einer der ersten 45 „Schulen der Zukunft“ernannt worden. Was sie anders macht? „Wir denken Schule vom Kind her, was braucht es“, sagt Dagmar Heinze, didaktische Koordinatorin und Konrektorin der Kuba West, wie die Schule sich selbst nennt. Und das fängt schon morgens früh an, wenn seit Montag wieder die inzwischen 409 Schülerinnen und Schüler am Eingang per Handschlag begrüßt werden. „Die Kinder merken schon gleich: Ich werde wahrgenommen, ich bin wichtig.“
Doch das könnte man notfalls auch mit pädagogischem Anstand erklären. Die Realschule plus geht noch viel weiter: Die „Schule der Zukunft“hat ihren Unterricht vor zwei Jahren auf den Kopf gestellt. Mit der fünften Klasse beginnend, besteht der Stundenplan nun statt aus sechs Mal 45 Minuten aus drei einstündigen Lerneinheiten und einer 90-minütigen Phase – eine Revolution im Schulalltag. „Damit erreichen wir nicht nur eine Entschleunigung und weniger Hektik für alle, sondern mehr Tiefe in der Beschulung“, sagt der kommissarische Schulleiter Michael Marx. „Die Berufswelt hat sich verändert, das Arbeiten insgesamt, Digitalisierung, Demografie – nur Schule tut so, als wenn alles wie schon immer gemacht werden müsste. Wir verfolgen dagegen einen ganzheitlichen Ansatz im Sinne der Kinder.“
Beide Pädagogen sind seit rund 13 Jahren in der Schulleitung aktiv und mit ihrer Klientel vertraut. Rund 30 Nationen lernen hier zusammen, ein Migrationsanteil von rund 40 Prozent – da sind viele Vorkenntnisse extrem unterschiedlich. Mathe, Deutsch, Englisch: Die drei Hauptfächer und Kernkompetenzen werden vom ersten Schultag der 5 intensiver und länger gelernt als anderswo und auf einen einheitlichen Stand gebracht.
Statt fester Klassenlehrer gibt es ein Team für die drei Hauptfächer und so mehrere Pädagogen, die zusammenarbeiten (müssen) und alle Kinder mit Stärken und Schwächen kennen. Und auch die Kinder kennen ihre Lehrer gut. „Es gibt deshalb nicht DEN Lehrer von der a, b oder c, sondern alle sehen sich als Gemeinschaft“, sagt der kommissarische Schulleiter und verweist auf seinen Vorgänger Eugen Lang und seinen Kollegen Michael Boost: „Wir haben seit Jahren die Schülerinnen und Schüler im Blick und nicht nur den Lehrplan. Was kann er oder sie? Es geht darum, sich an den Stärken zu orientieren und die Defizite auszugleichen und nicht auf ihnen herumzuhacken.“
Dazu werden die aktuell 71 Neulinge an der Kuba West auch nicht in Klassen, sondern in Lerngruppen X, Y und Z eingeteilt. „Wir haben uns bewusst für variable Lerngruppen entschieden – und die Kindern wissen das auch. Entscheidend ist die Lernatmosphäre und nicht die Klasseneinteilung nach Aktenlage“, sagt Heinze. Somit sei es wichtig, nicht intellektuell homogene Gruppen zu schaffen, sondern Teams, die gut zusammenarbeiten. Ende der ersten Schulwoche stehen die Gruppen aufgrund der Beobachtungen fest, und erst ab Klasse 6 ist die Klasseneinteilung festgezurrt.
Was noch wichtig ist: In den drei Hauptfächern erhalten alle ab Klasse 7 montags jeweils digital ihren Lehrplan für die Woche und eine Einführung. Per Handy oder Tablet können sie einsehen, was ihr Job ist, was die weißen Basisaufgaben bedeuten, die orangen Förderaufgaben beinhalten und die anspruchsvollen blauen Aufgaben zum Erlangen einer Eins erfordern. „Die Digitalität gibt Kindern und Eltern Transparenz und wir sehen die fertigen Lernfortschritte und wie viel Zeit das erfordert“, erklärt Heinze. Denn Deutsch, Mathe und Englisch werden nicht mehr im Frontalunterricht gelehrt, sondern in Form von Lernbüros. Das heißt: Während des Unterrichts dieser Fächer
sind die jeweiligen Räume mit den Fachlehrern besetzt und jedes Kind entscheidet selbst, wie viel Zeit es intensiv in diesem Fach arbeiten möchte. Anschließend werden die Inhalte wieder digital hochgeladen.
„Wir geben das Lernen zurück in die Verantwortung der Kinder und Lehrkräfte werden zum Coach“, erklärt Heinze. Denn über die Corona-Pandemie hat das Kuba-Team aus 38 Lehrkräften und rund einem Dutzend Integrationshelfern, Schulsozialarbeitern und Sekretariat festgestellt, dass viele Kinder in der Dauerberieselung durch Fernsehen, Video-Spiele & Co. in die Passivität abgerutscht sind. Mit den Lernbüros haben die Kinder ihren Fortschritt (wieder) selbst in der Hand. Der Vorteil für die Lehrkräfte: „Ich habe mehr Zeit für die Schwachen. Wo ich sonst im Frontalunterricht 30 Leute habe, von denen ein Teil abdriftet, kann ich mich jetzt zehn Minuten und mehr zu einem einzigen Schüler setzen, während die anderen selbstständig zum Ziel kommen“, erklärt die promovierte Germanistin.
Mit diesem Schuljahr ist nun der dritte Jahrgang in den Genuss des neuen Modells gekommen, nach und nach kommen Methodik, Lernziele und Lehrpläne für die älteren Jahrgänge hinzu. „Wir wissen aber heute noch nicht, wie die Schulentwicklung in ein oder zwei Jahren aussieht, sondern entwickeln sie stetig weiter“, sagt Marx. So werde garantiert, dass nachjustiert werden könne. Spätestens nach dem ersten Halbjahr dieses Schuljahres steht dann das Lernkorsett für die nächste achte Klasse fest.
Übrigens: Die Fächer der Naturund Gesellschaftswissenschaften werden fächerübergreifend in einem Lehrbereich gelehrt, „näher am Leben“, wie es Heinze formuliert. Musik und Kunst sind dabei losgelöst von Noten. „Es geht darum, an einem Vormittag in ein Thema einzutauchen, statt nach 45 Minuten und wenigen Strichen Pinsel und Farbkasten zur Seite zu legen“, sagt Marx. Diese Fächer werden demnach auch nicht von Lehrkräften, sondern externen Experten begleitet und unterrichtet. Ob der irakische Traditions-Musiker Saif Al-Khayyat, der Trierer Konzeptkünstler Laas Koehler oder die Trierer Bildhauerin Sabine Horras: Alle haben die West-Kids schon in Workshops in ihr Metier geführt.
Bildung im Schmalspurformat also? Denkste: „Wir haben zwar durch das Bildungsministerium und den Schulrat rechtliche Absicherung, aber der Lehrplan muss inhaltlich komplett erfüllt werden“, stellt Marx die Sonderstellung in der Trierer Schullandschaft klar. Und der Erfolg gibt ihm recht: „Bis zu 80 Prozent der Kinder gehen alleine oder in Begleitung selbstständig den nächsten Schritt der Leistungssteigerung. Sie trauen es sich zu, noch besser zu werden“, freut sich Dagmar Heinze. „Unsere Lehrer haben eine höhere Zufriedenheit und das Gefühl, erfolgreich unterrichtet zu haben und nicht auf verlorenem Posten zu stehen. Und die Lehramtsanwärter möchten bleiben.“
Natürlich ist auch an der Kuba West nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen: „Allerdings halten sich die Widerstände
der Kolleginnen und Kollegen in Grenzen“, sagt Marx. Er sei sogar dankbar für Kritik, könne die Schulentwicklung doch nur so noch besser werden. „Wir versuchen daher die Skeptiker bewusst einzubinden, sodass viele Veränderungen erst aus dem Kollegium angestoßen werden.“
Auch landes- und bundesweit wird man auf die Trierer Zukunftsschule inzwischen aufmerksam. Als Bewerber um den deutschen Schulpreis wird die Kuba West über zwei Jahre lang gecoacht, und Lehrkräfte werden geschult und weitergebildet. Doch in einigen Dingen ist man in Trier so weit voraus, dass nun bereits das Pädagogische Landesinstitut Rheinland-Pfalz die Kuba-Lehrkräfte um Unterstützung gebeten hat. „Das ist eine tolle Bestätigung für uns, zeigt aber auch, das wir im Schulbetrieb etwas tun müssen“, sagt Michael Marx, selbst zweifacher Familienvater.
Denn eines brennt ihm auf den Nägeln: War die Kuba West als Hauptschule mit 180 Schülern vor Jahren fast dem Untergang geweiht, platzt die Realschule plus nun mit ihren 409 Schülern aus allen Nähten. 900 Quadratmeter Fläche fehlen ihr, um überhaupt die Anforderungen des Landes erfüllen zu können. „Wir haben tolle Kinder. Doch bei immer weniger Kindern in der Gesellschaft werden diese immer schlechter versorgt. Trotz Raumnot schaffen wir es zwar, eine neue Schulentwicklung anzustoßen und umzusetzen“, sagt er. Aber er müsse trotz zahlreicher Bewerbungen Kinder bald abweisen. Der Traum des Kuba-Teams: zusätzliche Räume – und in der Nachbarschaft hat Marx bereits das leer stehende ehemalige Möbel-Fesser-Gebäude ausgemacht, das den Idealen der „Schule der Zukunft“nahekäme: „Wir loten derzeit aus, ob unsere Schule eine Zukunft dort haben kann.“