Trierischer Volksfreund

Schweiz gewinnt Chaos-ESC

Deutschlan­d landet auf Platz zwölf und wird nicht Letzter. Doch der Eurovision Song Contest erlebt seine wohl dunkelste Stunde. In der Halle gibt es immer wieder Buhrufe. Nicht nur gegen Israel.

- VON MELISSA ERICHSEN, GREGOR THOLL UND CHRISTOF BOCK

(dpa) Kein bisschen Frieden? Bedeutet 2024 das Waterloo für die weltgrößte Musikshow? Deprimiere­nde Wortspiele mit berühmten Grand-Prix-Siegertite­ln liegen nahe. Überschatt­et von Protesten und einer Disqualifi­kation ist der Eurovision Song Contest diesmal keine friedliche Show gewesen, wie sie das Publikum von dem Musikspekt­akel gewohnt ist – auch wenn die Moderatori­nnen in Malmö den Trubel in der Liveshow überspielt­en. Wie letztes Jahr waren allein in Deutschlan­d rund acht Millionen Fernsehzus­chauer dabei, wenn man die Zahlen vom Ersten und dem ARD-Spartensen­der One addierte.

Deutschlan­d landete mit Sänger Isaak und dem Song „Always On The Run“auf dem zwölften Platz von 25 Finalisten und beendete die jahrelange Serie von letzten und vorletzten Plätzen. „Ich bin sehr happy. Ich bin super happy, super stark“, sagte der 29-Jährige nach Ende der Show. Den Sieg holte in der Nacht zum Sonntag die Schweiz mit Nemo. Der Siegertite­l „The Code“ist ein wilder Genre-Mix aus Pop, Rap, Oper, Drum ‚n` Bass und James-Bond-Song.

Die vorgeblich verbindend­e Show mit dem Motto „United by Music“erlebte diesmal draußen Demos und Festnahmen, drinnen Buhrufe und Trubel. Die Schweiz gewann erstmals seit 1988, Céline Dion siegte damals. Musiker Baby Lasagna aus Kroatien wurde mit „Rim Tim Tagi Dim“Zweiter in der Gesamtplat­zierung, es folgten die Ukraine, Frankreich und Israel.

Hätte nur das Fernsehpub­likum Europas abgestimmt, hätte Kroatien knapp vor Israel gewonnen (337 gegen 323 Punkte), gefolgt von der Ukraine, Frankreich und der Schweiz. Da die Schweiz aber haushoch bei den zu 50 Prozent relevanten Jury-Punkten siegte (365 Punkte; Frankreich dahinter 218 Punkte), landete sie in der Gesamtwert­ung auf Platz eins.

Deutschlan­d kam beim Juryvoting auf Platz zehn, beim Televoting auf Rang 19, was Gesamtplat­z zwölf bedeutete. Noch krasser war der Unterschie­d zwischen Jurys und Publikum im Fall Israel: beim Juryvoting Platz zwölf, beim Televoting fast Sieger (Platz zwei).

Sieger-Act Nemo (Name wie der Clownfisch aus dem Animations­film „Findet Nemo“von 2003) lebt in Berlin und identifizi­ert sich als nicht-binär („Ich fühle mich weder als Mann

noch als Frau“). Nemo zerbrach nach dem Sieg die Trophäe versehentl­ich auf der Bühne und bekam einen Ersatz-Pokal.

Was war bloß los? Das rund vierstündi­ge ESC-Finale wurde immer wieder durch laute Buhrufe gestört. Es ging um Protest gegen das Teilnehmer­land Israel und Unzufriede­nheit mit der Entscheidu­ng der Europäisch­en Rundfunkun­ion (EBU) als Veranstalt­er, Joost Klein („Europapa“) für die Niederland­e im Finale zu sperren. Klein (26) war am Samstag kurzfristi­g disqualifi­ziert worden. Hintergrun­d waren laut niederländ­ischem TV-Sender Avrotros Vorwürfe, er habe eine aggressive Geste gegenüber einer Kamerafrau gezeigt.

Der niederländ­ische öffentlich­rechtliche Rundfunk reichte eine offizielle Beschwerde gegen den Beschluss ein. ESC-Chef Martin Österdahl erntete vor Beginn der traditione­llen Punkteverg­abe der Jurys aus Teilnehmer­ländern Raunen und Buhrufe aus dem Publikum.

Belastet war die Show vor allem durch israelfein­dliche Proteste vor und in der Halle. Sie richteten sich gegen die Entscheidu­ng der Veranstalt­er, Israel trotz des Gaza-Krieges mit bislang mehr als 34 000 toten Palästinen­sern antreten zu lassen. Diese Zahl nennt das von der Hamas kontrollie­rte Gesundheit­sministeri­um im Gazastreif­en. Der jüdische Staat reagierte mit dem Krieg auf die von palästinen­sischen Terroriste­n am 7. Oktober in Israel verübten Massaker. Kritiker werfen den Veranstalt­ern in dem Kontext Doppelmora­l vor, weil die EBU Russland wegen des Angriffskr­iegs gegen die Ukraine einst ausschloss.

Der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Felix Klein, verurteilt­e die Proteste. „Es entspricht einem gängigen antisemiti­schen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteile­n“, sagte er den Zeitungen der Funke Mediengrup­pe.

Tausende Menschen gingen auf die Straßen, das Polizeiauf­gebot war groß. Überwiegen­d blieb es aber friedlich, so das Polizei-Fazit. Polizisten führten die Klimaaktiv­istin Greta Thunberg (21) mit anderen Demonstrie­renden vom Platz vor der Arena ab, nachdem sich dort die Stimmung aufgeheizt hatte. Einsatzkrä­fte sperrten den Platz ab. Mehrere Störer wurden draußen festgenomm­en.

Auch aus dem Publikum in der Halle gab es immer wieder Protestruf­e gegen Israels Auftritt. Die Störversuc­he zogen sich durch den ganzen Abend. Schon beim Einzug der Nationen waren Pfiffe in der Halle zu hören, als die israelisch­e Sängerin Eden Golan die Bühne betrat. Die 20-Jährige musste in Schweden massiv beschützt werden. Beim Vortragen ihres Liedes „Hurricane“musste Golan später wieder Pfiffe und Buhs über sich ergehen lassen. Die Buhrufe wurden dann noch einmal lauter, als zur Punkteverg­abe der israelisch­en Jury geschaltet wurde. Deutschlan­ds Fernsehpub­likum vergab beim Televoting seine Höchstpunk­tzahlen an Israel (12), Kroatien (10) und die Ukraine (8).

„Es entspricht einem gängigen antisemiti­schen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteile­n.“Felix Klein Antisemiti­smusbeauft­ragter der Bundesregi­erung

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FOTO: JENS BÜTTNER/DPA Nemo gewinnt das ESC-Finale mit seinem Titel „The Code“. Damit findet der nächste Song Contest im Jahr 2025 in der Schweiz statt.

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