Habecks Bewunderung für den ukrainischen Pragmatismus
Der Vizekanzler will in Kiew Wege ausloten, wie die Ukraine am effektivsten beim Wiederaufbau und der Sicherung der Energieversorgung unterstützt werden kann.
Eigentlich könnte man eine Stunde hier bleiben oder noch länger. Robert Habeck (Grüne) sagt diesen Satz mit beklommener Stimme, kaum hörbar. Der Vizekanzler steht im Regen auf dem Unabhängigkeitsplatz Majdan Nesaleschnosti in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und kann sich nicht losreißen, doch der Zeitplan seiner Reise drängt. Tausende kleiner ukrainischer Flaggen stecken in einer Rasenfläche auf diesem zentralen Platz, zum Gedenken an die gefallenen Soldaten und zivilen Opfer des russischen Angriffskrieges. Im Laufe der mehr als zwei Jahre, die sich die Ukraine bereits gegen Russlands Aggression verteidigen muss, sind es immer mehr Fähnchen geworden. Es ist keine offizielle Gedenkstätte, ukrainische Bürger haben diesen Ort viel mehr in eigener Initiative entstehen lassen. Es sind Momente wie dieser, in denen Habeck den persönlichen Schicksalen dieses Krieges nahekommt.
Ein „Kampf um Freiheit“sei es, das dürfe nicht in Vergessenheit geraten, betont Habeck bei seiner Reise. Ein Kampf, den die Ukraine für ihre eigene Selbstbestimmung und Unabhängigkeit führe, aber eben auch für die Werte und Sicherheitsarchitektur Europas. Habeck hebt mehrfach das Eigeninteresse Deutschlands daran hervor, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verliert.
Dieses Dringen ist nicht grundlos. Die Ukraine steht massiv unter Druck, so sehr, wie vermutlich noch nie in diesem Krieg. Es fehlt an vielem: an Munition für die Artillerie, an Gerät zur Luftverteidigung, an einer sicheren Energieversorgung. Nach gezielten russischen Angriffen auf die Energieinfrastruktur in den vergangenen Wochen ist die Stromversorgung massiv in Mitleidenschaft gezogen, alle ukrainischen Kohlekraftwerke wurden inzwischen getroffen und es ist nicht ausgeschlossen, dass es in den kommenden Monaten zu Stromabschaltungen kommen wird.
In dieser prekären Lage wäre mehr Unterstützung des Westens für die Ukraine essentiell. Doch es herrscht vor allem Ungewissheit: In den USA als größter Unterstützer konnte die Blockade neuer Hilfszusagen noch nicht gelöst werden. Die ukrainische Vizepremier- und Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko betont nach einem ausführlichen Gespräch mit Habeck und Vertretern der deutschen Wirtschaftsdelegation, dass die Unterstützung der USA „extrem wichtig“wäre. Am Samstag soll der US-Kongress über ein Hilfspaket für die Ukraine abstimmen, Ausgang offen.
Umso mehr klammert man sich auch an kleine Hoffnungsschimmer. Auch Habeck, der keinen Zweifel daran lässt, dass er die Ukraine unterstützen will „as long as it takes“, so lange wie nötig. Und tatsächlich deutet sich an, dass es nach der deutschen Lieferung eines dritten Patriot-Flugabwehrraketensystems an die Ukraine auch bei anderen europäischen Partnern Bewegung gibt. Bereits am Mittwoch wurde bekannt, dass die Niederlande, Dänemark und Tschechien die deutsche Initiative möglicherweise unterstützen.
Doch in erster Linie will Habeck in Kiew Wege ausloten, wie die Ukraine beim Wiederaufbau und der Stärkung ihrer Energieinfrastruktur unterstützt werden kann. Und er will deutsche Unternehmen motivieren, in der Ukraine zu investieren. Der Minister zeigt sich regelrecht begeistert vom ukrainischen Pragmatismus. Nach dem Gespräch mit seiner Amtskollegin Swyrydenko, an dem auch der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko teilnahm, sagt Habeck: „Der Geist dieser Runde war:
Wir müssen die Dinge jetzt schnell lösen und nicht lange darüber reden, sondern sie angehen.“
Doch welches Interesse könnten deutsche Unternehmen an Investitionen in der Ukraine haben, gerade jetzt, da das Land im Krieg ins Hintertreffen zu geraten droht? „Wenn keiner vorweg geht, dann geht auch keiner hinterher“, sagt Florian Seibel, Geschäftsführer des Drohnenherstellers Quantum Systems, der Habeck bei in der Ukraine begleitet. Quantum Systems produziert Aufklärungsdrohnen, die in der Ukraine bereits im Einsatz sind, und eröffnet noch am Donnerstag ein neues Werk nahe Kiew. Er wolle nicht nur dabei zuschauen, sondern mit dabei sein, wenn es darum geht, die Ukraine in ihrem Kampf zu unterstützen. „Wenn das ein Risiko bedeutet, dann ist das so“, sagt Seibel.
Auch Jörg Ebel, Präsident des Bundesverbands Solarindustrie, argumentiert politisch. „Wir müssen uns klar sein, dass der Preis, den wir zahlen würden, wenn die Lage weiter eskaliert, ein sehr viel höherer wäre, als der, den wir zahlen, wenn wir die Ukraine jetzt unterstützen.“Zu dieser Unterstützung gehört aus Ebels Sicht auch eine sichere Versorgung mit grünem Strom. Schon aus Eigeninteresse sollte man „sehr zügig handeln“, sagt Ebel.
Dass das gelingen kann, zeigt ein Solarprojekt an einer Schule in Irpin, rund 27 Kilometer nordwestlich von Kiew. Die Stadt wurde auf traurige Weise bekannt, weil Russland dort kurz nach der Invasion hunderte Zivilisten tötete, vergewaltigte und folterte. Zwei Jahre später eröffnet Habeck an diesem Donnerstag an dem Lyceum in Irpin das Solarprojekt, das die Schule künftig mit Sonnenenergie versorgt. Habeck spricht bereits von einer „schönen Geschichte des Wiederaufbaus“in Irpin.