Wie die EU sich selbst verteidigen will
Die vor zwei Jahren von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende ist in Brüssel angekommen. Die EU-Kommission entwickelte erstmals eine Verteidigungsstrategie.
Wenn sich gleich drei Kommissare vor den europäischen Medien aufstellen, um nicht ein erstes, sondern ausdrücklich ein „allererstes“Konzept vorzustellen, klingt es zunächst etwas befremdlich, wenn Binnenmarktkommissar Thierry Breton nicht mit einem Neuanfang startet, sondern ein Ende einleitet: Für ihn markiert dieser Mittwochnachmittag im Kommissionsgebäude in Brüssel den „Endpunkt einer Zeit, die geprägt war von der Friedensdividende“. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes Ende der 1980er Jahre hatten es die EU-Staaten mit ihrer Verteidigung schleifen lassen, die europäische Verteidigungsindustrie ein Produktionsband nach dem anderen abgeschaltet. Warum dies nun alles in die entgegengesetzte Richtung laufen soll, macht EU-Vizekommissionspräsidentin Margrethe Vestager auch optisch deutlich. Sie hat sich zur Vorstellung der ersten EU-Verteidigungsstrategie eine Ukraine-Solidaritätsschleife an den Pulli geheftet.
Weil die Bedrohung durch Russlands Angriffskrieg Europa und nicht allein der EU gilt, denkt die Kommission bei ihrem Konzept nicht in einem Europa der 27, sondern in einem der 32. Norwegen hat sich schon in der Vergangenheit als europäischer Nato-Partner auch an EU-Verteidigungsprogrammen beteiligt und auch die anderen drei Nicht-EU-Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums, Island, Liechtenstein und die Schweiz, werden von Anfang an mitmachen können. Das wichtigste ist jedoch, dass die Ukraine bei dieser Verteidigungsinitiative noch vor der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen als gleichwertiges EU-Mitglied behandelt wird.
Der Anlass der Zeitenwende in der EU-Verteidigungsindustrie hängt schließlich mit der Entscheidung zusammen, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf mit Milliarden zu unterstützen und massiv mit Waffen zu versorgen. Deshalb ist Teil der Strategie auch der Aufbau eines EU-Verteidigungszentrums in der Ukraine, in dem koordiniert werden soll, welche Waffen- und Munitionssysteme vordringlich gebraucht werden, um eine Niederlage gegen die russischen Invasoren zu verhindern.
Bislang hat das nicht so Recht geklappt, muss EU-Außenbeauftragter Josep Borrell einräumen. Von der einen Million an Artilleriemunition, die die EU der Ukraine vor einem Jahr bis zum Ende dieses Monats zugesagt habe, schaffe die Gemeinschaft gerade mal ein Drittel.
Allerdings verweist Breton nicht nur darauf, dass er der zuständige Kommissar für die Verteidigungsindustrie sei, sondern auch, dass es auch durch sein Wirken gelungen sei, die monatliche Produktionskapazität auf 80 000 Stück hochzuschrauben. Das ist der Moment, wo Borrell interveniert und darauf hinweist, dass Breton wirklich nur für die Industrie zuständig sei, die Verteidigung selbst bei den Mitgliedsländern liege und er in der Kommission für die Verteidigungspolitik die Verantwortung habe.
Es ist eine unfreiwillige Darbietung jener Strukturen in der EU, die dazu geführt haben, dass allen EU-Staaten zusammen zwar dreimal mehr Mittel für die Verteidigung zur Verfügung stehen als Russland, dass dafür aber kaum Verteidigungsfähigkeiten geschaffen werden. Das hänge auch damit zusammen, dass es von jeder Waffe in der EU drei, vier, ja oft auch fünf verschiedene und nicht miteinander kompatible
Typen gebe, klagt Vestager. Und die reichten jeweils nicht einmal aus, um Reserven abgeben zu können. So haben die EU-Länder nach einer internen Übersicht der Kommission fast zwei von drei an die Ukraine gelieferten Waffen selbst erst einmal in den USA kaufen müssen.
Das nur sehr zögerliche Wiederanfahren der europäischen Rüstungsindustrie hat auch damit zu tun, dass derzeit 80 Prozent aller Mittel der EU-Staaten für Verteidigung an Firmen außerhalb der EU gehen. Das vor Jahren bereits selbst gesetzte Ziel, wenigstens jeden dritten Euro der eigenen Industrie zukommen zu lassen, wurde damit weit verfehlt. Angesichts des nachdrücklichen Vorsatzes, so schnell wie möglich so viel wie möglich gemeinsam und innerhalb der EU zu beschaffen, klingt die Zielmarke immer noch bescheiden: 2030 soll die Hälfte der Beschaffungen bei europäischen Firmen ankommen, sollen 40 Prozent der Ausrüstungen gemeinsam bestellt werden. Dafür will die Kommission eine Institution zur besseren Koordinierung zusammen mit den Mitgliedsländern ins Leben rufen.
Wie begrenzt die Möglichkeiten auf EU-Ebene sind, wird auch bei der finanziellen Unterfütterung deutlich. Es geht pro Jahr um eine Größenordnung von über 300 Milliarden nötiger Verteidigungsanstrengungen in der EU, aber um dafür „Anreize“zu schaffen, will die Kommission für die Jahre 2025 bis 2028 jeweils 0,5 Milliarden bereitstellen. Zugleich regt sie gegenüber den EU-Staaten jedoch auch eine Diskussion darüber an, ob die Europäischen Investitionsbank, für die Rüstungsvorhaben derzeit noch tabu sein müssen, auch in neue Produktionsstätten investieren können soll. Das Sagen haben ohnehin die Mitgliedstaaten, die laut Vestager nun „mehr, besser und europäisch“in die Verteidigung Europas investieren sollen.