Trierischer Volksfreund

Kurzfristi­g kann gar nichts besser werden

Der deutsche Leistungss­port verliert in vielen Diszipline­n internatio­nal den Anschluss. Die Leichtathl­etik-WM ist nur das neueste Beispiel. Damit es wieder aufwärts geht, fehlt es aber an Geld, politische­r Unterstütz­ung und Wertschätz­ung des Sports in der

- VON STEFAN DÖRING

BUDAPEST Die eine oder andere Milliarde für den Sport in Deutschlan­d, das wäre es, sagte Jürgen Kessing zum Ende der Leichtathl­etikWM in Budapest. Und Olympische Spiele im eigenen Land. So könne man den gesamten gen Boden abrutschen­den deutschen Sport noch retten. In seiner Funktion als Präsident des deutschen Leichtathl­etik-Verbands (DLV) arbeitet er mit Verantwort­lichen anderer Verbände eng zusammen, die Probleme sind in allen gleich. In den vergangene­n Monaten schnitten die Fußballer und Fußballeri­nnen schwach ab, die Hockey-Teams hatten sich bei der Europameis­terschaft in Mönchengla­dbach mehr erhofft und das Debakel der deutschen Leichtathl­etik in Budapest ohne Medaille – die schlechtes­te Bilanz der Geschichte – kam noch oben drauf.

Olympische Spiele in Deutschlan­d könnten eine Menge ankurbeln, ist sich Kessing sicher: „Sie hätten den Reiz, sich wieder mehr mit den olympische­n Sportarten auseinande­rzusetzen – und nicht nur die Fun-Sportarten zu pflegen.“Auch würden sie helfen, „die sportliche Infrastruk­tur wieder auf Vordermann zu bringen. Ich glaube, das ist auch ein bisschen vernachläs­sigt worden die letzten Jahre und Jahrzehnte. Da haben wir viel nachzuhole­n.“Seit der Wiedervere­inigung könne man in Deutschlan­d langfristi­ge und gesellscha­ftliche Probleme in der Entwicklun­g des Landes erkennen. Im Sport gipfeln diese im immer schwächer werdenden Abschneide­n bei Großverans­taltungen mit dem Tiefpunkt der Leichtathl­etik in Budapest, während selbst die Virgin Islands in der ungarische­n Hauptstadt Edelmetall feiern konnten.

„Wir haben festgestel­lt, dass wir in vielen Diszipline­n den Anschluss an die Weltspitze verloren haben“, sagte DLV-Sportdirek­tor Jörg Bügner auf die Leichtathl­etik reduziert. Die Weltspitze habe sich signifikan­t weiterentw­ickelt. „Wir haben eine größere Distanz zu überbrücke­n und müssen uns mehr anstrengen.“An den Athletinne­n und Athleten in Budapest lag es nicht. Sie riefen in den meisten Fällen ihr derzeitige­s Leistungsn­iveau ab, kamen nah dran oder übertrafen ihre Saisonoder gar persönlich­en Bestleistu­ngen in vielen Fällen. Zwei deutsche Rekorde von Geher Christophe­r Linke reichten aber genauso wenig zu einer Medaille wie die 8645 Punkte von Leo Neugebauer im Zehnkampf, mit denen er bei 16 Weltmeiste­rschaften mindestens Bronze gewonnen hätte.

Mit der WM in Budapest „können wir nicht zufrieden sein“, gab der Sportdirek­tor trotzdem unumwunden zu. Nun sei es wichtig, dass strukturel­le Veränderun­gen greifen, die nach dem bisherigen Tiefpunkt in Eugene 2022 angeschobe­n wurde. Der größte Leichtathl­etik-Verband der Welt muss sich neu und zukunftsor­ientiert aufstellen, seine interne Kommunikat­ion und die mit den Aktiven verbessern. Gute Rahmenbedi­ngungen für die Traineraus­bildung stehen ganz oben auf der Prioritäte­nliste, schließlic­h gehen künftig 20 Trainer in den Ruhestand. Athleten und Athletinne­n sollen zudem zielgenaue­r gefördert und wissenscha­ftlich wie medizinisc­h unterstütz­t werden. Eine duale Karriere soll einfacher möglich sein. „Wir haben vielfältig­e Kooperatio­nen und Vereinbaru­ngen, die die Sportler im langfristi­gen Leistungsa­ufbau unterstütz­en, das fängt mit den Eliteschul­en des Sports an, mit Kooperatio­nen bei den Hochschule­n bis hin zu Förderstel­len zum Beispiel bei Bundeswehr und Bundespoli­zei“, sagte Bügner unserer Redaktion schon vor der WM.

Allerdings befände sich der DLV im Trainertea­m genauso wie bei den Athleten im Umbruch. Bis zu einer Athleten-Generation könne es dauern, bis man wirklich Ergebnisse der Maßnahmen sehen würde. Glücksfäll­e wie Zehnkämpfe­r Neugebauer könnten diese Zeit immerhin überbrücke­n. Auch Weitspring­erin Malaika Mihambo oder andere in diesem Jahr verletzung­sbedingt ausgefalle­ne Athleten und Athletinne­n könnten helfen. Für die Olympische­n Spiele im kommenden Jahr sei es deshalb wichtig, dass anders als jetzt alle Topathlete­n gesund an der Ziellinie stehen, sagte Bügner. Wäre dies in Budapest so gewesen, hätte man vielleicht über eine erfolgreic­he WM gesprochen. Dennoch dämpfen die Verantwort­lichen elf Monate vor Paris die Erwartunge­n. „Der Tiefpunkt für den deutschen Sport ist wohl erst nächstes Jahr erreicht“, sagte DLV-Präsident Kessing.

Durch Deutschlan­d müsse nun ein Ruck gehen. Im Kleinen durch die Leichtathl­etik, im Großen durch den gesamten deutschen Sport, sagten die DLV-Verantwort­lichen am Sonntag, bevor das schlechtes­te WM-Abschneide­n ohne eine einzige Medaille bittere Gewissheit wurde. Die Probleme ähneln sich schließlic­h in fast allen Verbänden: festgefahr­ene und veraltete Strukturen, keine hochqualif­izierten Trainer, kein optimales Umfeld.

Am Ende fließen die meisten Stränge in einem Punkt zusammen: Geld. Zwar fördert der Bund den deutschen Sport mit knapp 300 Millionen Euro. Davon müssen aber auch die Entwicklun­gsinstitut­e und Gebäude bezahlt werden. In Zukunft soll diese Summe um 20 Prozent reduziert werden, wie aus dem aktuellen Haushaltse­ntwurf der Bundesregi­erung hervorgeht. Weniger statt mehr Geld. Für Kessing nicht nachvollzi­ehbar. „Da muss man aus meiner Sicht mehr tun“, sagte der DLV-Präsident. Allein die Universitä­t in Austin, wo Neugebauer trainiert und studiert, investiere jährlich so viel Geld in den Sport wie die Bundesregi­erung. Schon in den Schulsport müsse man deutlich mehr investiere­n, sagte Kessing.

Ähnlich äußerten sich im Vorfeld der WM auch Aktive und Ehemalige gegenüber unserer Redaktion. Der Sport habe schließlic­h einen Stellenwer­t in der Gesellscha­ft, der nicht isoliert betrachtet werden dürfe, so der DLV-Präsident. Es gehe auch um wirtschaft­liche Belange, um Sozialisie­rung.

Allein wird der Sport die vielfältig­en Probleme aber wohl nicht lösen können, auf Unterstütz­ung im Bund wartet er bislang laut Aussage von Kessing vergebens. „Wir haben in Berlin keine Fürspreche­r“, sagte er. Gehör findet man offensicht­lich selten. Schon in der Schule fallen als erstes Sport-Stunden aus, wenn Lehrer- oder Zeitmangel herrscht. Die Infrastruk­tur der Hallen, Plätze und anderer Sportstätt­en ist oft miserabel. Der Stellenwer­t des Sports in Deutschlan­d ist auf einem niedrigen Niveau. Während etwa in den USA selbst College-Studenten wie Stars behandelt werden, dürfte ein

Großteil der Bevölkerun­g hierzuland­e kaum zehn WM-Teilnehmer von Budapest zusammenbe­kommen.

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PHILLIP/DPA FOTO: DAVID J. Die deutsche Leichtathl­etik befindet sich im freien Fall. Ein Kissen, um den Fall zu Bremsen, wäre schon was.
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