Kurzfristig kann gar nichts besser werden
Der deutsche Leistungssport verliert in vielen Disziplinen international den Anschluss. Die Leichtathletik-WM ist nur das neueste Beispiel. Damit es wieder aufwärts geht, fehlt es aber an Geld, politischer Unterstützung und Wertschätzung des Sports in der
BUDAPEST Die eine oder andere Milliarde für den Sport in Deutschland, das wäre es, sagte Jürgen Kessing zum Ende der LeichtathletikWM in Budapest. Und Olympische Spiele im eigenen Land. So könne man den gesamten gen Boden abrutschenden deutschen Sport noch retten. In seiner Funktion als Präsident des deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) arbeitet er mit Verantwortlichen anderer Verbände eng zusammen, die Probleme sind in allen gleich. In den vergangenen Monaten schnitten die Fußballer und Fußballerinnen schwach ab, die Hockey-Teams hatten sich bei der Europameisterschaft in Mönchengladbach mehr erhofft und das Debakel der deutschen Leichtathletik in Budapest ohne Medaille – die schlechteste Bilanz der Geschichte – kam noch oben drauf.
Olympische Spiele in Deutschland könnten eine Menge ankurbeln, ist sich Kessing sicher: „Sie hätten den Reiz, sich wieder mehr mit den olympischen Sportarten auseinanderzusetzen – und nicht nur die Fun-Sportarten zu pflegen.“Auch würden sie helfen, „die sportliche Infrastruktur wieder auf Vordermann zu bringen. Ich glaube, das ist auch ein bisschen vernachlässigt worden die letzten Jahre und Jahrzehnte. Da haben wir viel nachzuholen.“Seit der Wiedervereinigung könne man in Deutschland langfristige und gesellschaftliche Probleme in der Entwicklung des Landes erkennen. Im Sport gipfeln diese im immer schwächer werdenden Abschneiden bei Großveranstaltungen mit dem Tiefpunkt der Leichtathletik in Budapest, während selbst die Virgin Islands in der ungarischen Hauptstadt Edelmetall feiern konnten.
„Wir haben festgestellt, dass wir in vielen Disziplinen den Anschluss an die Weltspitze verloren haben“, sagte DLV-Sportdirektor Jörg Bügner auf die Leichtathletik reduziert. Die Weltspitze habe sich signifikant weiterentwickelt. „Wir haben eine größere Distanz zu überbrücken und müssen uns mehr anstrengen.“An den Athletinnen und Athleten in Budapest lag es nicht. Sie riefen in den meisten Fällen ihr derzeitiges Leistungsniveau ab, kamen nah dran oder übertrafen ihre Saisonoder gar persönlichen Bestleistungen in vielen Fällen. Zwei deutsche Rekorde von Geher Christopher Linke reichten aber genauso wenig zu einer Medaille wie die 8645 Punkte von Leo Neugebauer im Zehnkampf, mit denen er bei 16 Weltmeisterschaften mindestens Bronze gewonnen hätte.
Mit der WM in Budapest „können wir nicht zufrieden sein“, gab der Sportdirektor trotzdem unumwunden zu. Nun sei es wichtig, dass strukturelle Veränderungen greifen, die nach dem bisherigen Tiefpunkt in Eugene 2022 angeschoben wurde. Der größte Leichtathletik-Verband der Welt muss sich neu und zukunftsorientiert aufstellen, seine interne Kommunikation und die mit den Aktiven verbessern. Gute Rahmenbedingungen für die Trainerausbildung stehen ganz oben auf der Prioritätenliste, schließlich gehen künftig 20 Trainer in den Ruhestand. Athleten und Athletinnen sollen zudem zielgenauer gefördert und wissenschaftlich wie medizinisch unterstützt werden. Eine duale Karriere soll einfacher möglich sein. „Wir haben vielfältige Kooperationen und Vereinbarungen, die die Sportler im langfristigen Leistungsaufbau unterstützen, das fängt mit den Eliteschulen des Sports an, mit Kooperationen bei den Hochschulen bis hin zu Förderstellen zum Beispiel bei Bundeswehr und Bundespolizei“, sagte Bügner unserer Redaktion schon vor der WM.
Allerdings befände sich der DLV im Trainerteam genauso wie bei den Athleten im Umbruch. Bis zu einer Athleten-Generation könne es dauern, bis man wirklich Ergebnisse der Maßnahmen sehen würde. Glücksfälle wie Zehnkämpfer Neugebauer könnten diese Zeit immerhin überbrücken. Auch Weitspringerin Malaika Mihambo oder andere in diesem Jahr verletzungsbedingt ausgefallene Athleten und Athletinnen könnten helfen. Für die Olympischen Spiele im kommenden Jahr sei es deshalb wichtig, dass anders als jetzt alle Topathleten gesund an der Ziellinie stehen, sagte Bügner. Wäre dies in Budapest so gewesen, hätte man vielleicht über eine erfolgreiche WM gesprochen. Dennoch dämpfen die Verantwortlichen elf Monate vor Paris die Erwartungen. „Der Tiefpunkt für den deutschen Sport ist wohl erst nächstes Jahr erreicht“, sagte DLV-Präsident Kessing.
Durch Deutschland müsse nun ein Ruck gehen. Im Kleinen durch die Leichtathletik, im Großen durch den gesamten deutschen Sport, sagten die DLV-Verantwortlichen am Sonntag, bevor das schlechteste WM-Abschneiden ohne eine einzige Medaille bittere Gewissheit wurde. Die Probleme ähneln sich schließlich in fast allen Verbänden: festgefahrene und veraltete Strukturen, keine hochqualifizierten Trainer, kein optimales Umfeld.
Am Ende fließen die meisten Stränge in einem Punkt zusammen: Geld. Zwar fördert der Bund den deutschen Sport mit knapp 300 Millionen Euro. Davon müssen aber auch die Entwicklungsinstitute und Gebäude bezahlt werden. In Zukunft soll diese Summe um 20 Prozent reduziert werden, wie aus dem aktuellen Haushaltsentwurf der Bundesregierung hervorgeht. Weniger statt mehr Geld. Für Kessing nicht nachvollziehbar. „Da muss man aus meiner Sicht mehr tun“, sagte der DLV-Präsident. Allein die Universität in Austin, wo Neugebauer trainiert und studiert, investiere jährlich so viel Geld in den Sport wie die Bundesregierung. Schon in den Schulsport müsse man deutlich mehr investieren, sagte Kessing.
Ähnlich äußerten sich im Vorfeld der WM auch Aktive und Ehemalige gegenüber unserer Redaktion. Der Sport habe schließlich einen Stellenwert in der Gesellschaft, der nicht isoliert betrachtet werden dürfe, so der DLV-Präsident. Es gehe auch um wirtschaftliche Belange, um Sozialisierung.
Allein wird der Sport die vielfältigen Probleme aber wohl nicht lösen können, auf Unterstützung im Bund wartet er bislang laut Aussage von Kessing vergebens. „Wir haben in Berlin keine Fürsprecher“, sagte er. Gehör findet man offensichtlich selten. Schon in der Schule fallen als erstes Sport-Stunden aus, wenn Lehrer- oder Zeitmangel herrscht. Die Infrastruktur der Hallen, Plätze und anderer Sportstätten ist oft miserabel. Der Stellenwert des Sports in Deutschland ist auf einem niedrigen Niveau. Während etwa in den USA selbst College-Studenten wie Stars behandelt werden, dürfte ein
Großteil der Bevölkerung hierzulande kaum zehn WM-Teilnehmer von Budapest zusammenbekommen.