Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Freude und ein mulmiges Gefühl
Wie an Thüringer Grundschulen ab Montag zum Unterricht für alle übergegangen wird
Mittwochvormittag, für die Erstklässler in der Grundschule Lehesten steht Deutsch auf dem Lehrplan. Ich pflanze, du pflanzt ... Schulleiterin Cornelia Seifert dekliniert an der Tafel das Verb durch. Jeder Schüler hat seinen festen Platz, die Tische sind mit Namen markiert. Außerhalb des Unterrichts herrscht für alle Maskenpflicht, auf dem Fußboden erinnern Aufkleber daran, den Abstand einzuhalten. Im Raum nebenan bespricht Kollegin Caroline Skupch mit den zwei Schülern der vierten Klasse, wie man einen Bericht schreibt. Seit dem 11. Mai erhalten die Viertklässler täglichen Präsenzunterricht. Für die anderen gilt das wöchentliche Wechselmodell. Erst holten sie die zweite Klasse zurück, dann die dritte, seit Montag sitzt die erste Klasse im Raum.
Noch am Donnerstag fehlen verlässliche Informationen
Anders ginge es auch gar nicht. Seit im April eine Lehrerin schwer erkrankt ist, gibt es für die 46 Kinder nur noch zwei Lehrerinnen und zwei Horterzieherinnen. Sie sind im Dienst beide, obwohl eine von ihnen eine Vorerkrankung hat. Caroline Skupch erwartet ein Kind, sie hat die vierte Klasse trotzdem täglich übernommen, weil es in diesem Jahrgang nur zwei Schüler sind. Für den Unterricht der anderen bleibt nur noch die Schulleiterin. Wie gesagt, im wöchentlichen Wechsel.
Schulelternsprecherin Kathleen Rössel ist dennoch unendlich erleichtert, dass der Unterricht in dieso ser Form möglich ist. Sie hat zwei Kinder an der Schule, der Unterricht zu Hause, bemerkt sie, hat sie an manchen Tagen an die Grenzen gebracht. Was didaktisches Wissen wert ist, sagt sie, spürt man, wenn man es nicht hat. Und auch den Kindern fehlen die Freunde und Unterrichtsstruktur.
Sie kennt die personellen Pressionen, an einer solchen kleinen Schule sind die Drähte kurz. Wie ab Montag der vollständige Präsenzunterricht an der Schule funktionieren soll, ist ihr schleierhaft. Zwei Lehrerinnen für vier Klassen, die auch noch voneinander getrennt bleiben sollen. Räumlich ist das kein Problem, es gibt ein großzügiges Freigelände mit einem Garten und sogar einem grünen Klassenzimmer.
Aber wer soll die anderen drei Klassen unterrichten, die die schwangere Kollegin nicht übernehmen kann, weil zum Beispiel bei 17 Drittklässlern in einem Raum das Risiko für sie zu groß ist?
Eine Antwort werden sie und die anderen Eltern erst am nächsten Tag erhalten können, das ist der Donnerstag vor dem 15. Juni, an dem der Voll-Unterricht wieder anfangen soll. Weil das Schulamt noch nicht weiß, wann es Kollegen zur Hilfe nach Lehesten schicken kann, muss das Schichtmodell erst einmal weiterlaufen: Präsenzunterricht für die 4. und die 2. Klasse, die anderen beiden Klassen werden im Hort betreut, ohne Präsenzunterricht.
Lehesten, sagt Rolf Busch, der Vorsitzende des Thüringer Lehrerverbandes (TLV), sei nicht die einzige Grundschule mit dieser Unsicherheit. Er wisse von Schulleitern, die noch am Donnertagsvormittag auf detaillierte Informationen aus dem Bildungsministerium warteten, unter welchen Vorgaben sie den Unterricht am Montag sichern sollen. Auch die Bildungsgewerkschaft GEW spricht von fehlenden Vorbereitungszeiten.
An Erfurts Europaschule, mit mehr als 500 Kindern die größte Grundschule der Stadt, erfuhren die Eltern am Mittwoch von den neuen Abläufen. Aber auch nur, weil sie im Kollegium schon mit den Planungen begonnen hatten, als die ersten Informationen über die weitere Öffnungen in den Medien auftauchten, erklärt Schulleiterin Annett Riede. Bislang hatten sie für den Präsenzunterricht jede Klasse auf drei Gruppen aufgeteilt. Ab Montag werden wieder die festen Klassenverbände unterrichtet.
Viele Kollegen arbeiten, obwohl sie zur Risikogruppe gehören
Das ist nur möglich, betont die Schulleiterin, weil auch Kollegen, die aufgrund von Alter und Vorerkrankungen zur Risikogruppe zählen, sich trotzdem vor ihre Klassen stellen. Damit seien die personellen Ressourcen ausgereizt, faktisch bis zur letzten Stunde. Eine strikte Trennung der einzelnen Gruppen außerhalb des Unterrichts sei jedoch nur nach Jahrgängen möglich, mit versetzten Pausenzeiten. Und im Hort wird sich jede Klassenstufe nur auf einer Etage aufhalten. Bei insgesamt 21 Klassen sei das anders gar nicht machbar.
Spätestens im Schulbus sitzen ja doch wieder alle nebeneinander
Auch in der Grundschule Leutenberg im Kreis Saalfeld-Rudolstadt wird die Forderung nach getrennten festen Lerngruppen mit Skepsis gesehen. Im Unterricht sei das sicher problemlos möglich, so Schulleiterin Steffi Müller. Doch im Hort müssen jeweils zwei Klassenstufen zusammengelegt werden, damit die Betreuung personell abgesichert werden kann. Und spätestens im Schulbus, bemerkt sie, werden Kinder aller Klassen nebeneinander sitzen. Auch in ihrem Kollegium gebe es viele Lehrer, die zur Risikogruppe gehören. Natürlich, räumt sie ein, mische sich in die Freude auf die Schüler auch ein mulmiges Gefühl. Aber sie machen es trotzdem.
„Wir tun, was wir können“, sagt die Schulleiterin. Ein Satz, den sie an allen drei Schulen sagen. Das hört auch TLV-Chef Rolf Busch von vielen Kollegen. Weil sie zu ihren Schülern zurück wollen. Auch den Ruf der Eltern nach verlässlichem regelmäßigen Unterricht für jeden Schüler kann er sehr gut verstehen.
Wie dabei Gesundheitsschutz eingehalten werden solle, könne er sich auch nicht vorstellen. Natürlich berge dieser Übergang in den vollen Präsenzunterricht ein Risiko. Aber das, findet der Verbandschef, müsse gegenüber den Lehrern auch einmal so klar gesagt werden.
„Wir tun, was wir können.“Steffi Müller, Schulleiterin Grundschule Leutenberg