Thüringische Landeszeitung (Weimar)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Aber...“, begann Stadler vorsichtig. „Was ist das?“Er trat näher an das lange Regal zur Linken heran. „Das Meer“stand auf einem Buchrücken. „Abenteuer auf dem Meer 1/3“auf dem nächsten, dem die Bände zwei und drei folgten. „Auf den Weltmeeren zu Hause“, „Ich und mein Fischkutte­r“, „Wer die Welt gesehen hat“, „In Stürmen erprobt“und so weiter und so fort. Alles Literatur über das Meer.

„Darf ich?“, fragte er und fasste nach einem der größeren Bände. „Nur zu“, ermunterte ihn Paolini. Stadler zog einen Band heraus. Der Wolkenmarm­or des Pappdeckel­s war schmucklos, das Buchleinen zog sich nur über den Rücken. Er sah den Wirt unsicher an, der jedoch nickte eifrig. Mach auf, schien das zu bedeuten.

Er schlug das Buch auf – und hielt beinahe den Atem an. Die Seiten waren von Hand beschriebe­n, in einer steilen und engen, aber sehr akkuraten Handschrif­t und in schwarzer Tinte. An einer beliebigen Stelle begann er zu lesen: „Wir ließen uns nicht lange Zeit mit dem Löschen der Ladung. Die Brasiliane­r hatten erneut die Liegegebüh­ren erhöht und wir hatten schon zwei Tage Verspätung.“

„Das ist ...“Stadler zögerte noch immer mit einer Erklärung, er war sich nicht ganz sicher.

Doch Paolini nickte. „Das sind Memoiren von Kapitänen. Wusstest du nicht, dass Procida auch die Insel der Kapitäne genannt wird? Die besten Kapitäne und die schönsten Mädchen der Welt kommen von hier. Tausende. Das Istituto Nautico ist die berühmtest­e Seefahrers­chule in ganz Europa.“

Nun, das mit den Tausenden hielt Stadler denn doch für übertriebe­n, aber die schlichte Anzahl der hier vorhandene­n Bücher konnte schwer beeindruck­en. Er zog einen weiteren Band heraus, ebenfalls im A4-Format. Dieses Buch war nicht von Hand geschriebe­n, sondern mit Maschine getippt, eine alte Timesgen

Schrift mit langen Serifen. Und mit Buchstaben, die ein wenig aus der Reihe tanzten.

„Aber das sind ja ... das sind dann ja alles Unikate“, stellte er fest, obwohl es noch immer wie eine Frage klang.

„Richtig“, bestätigte Paolini. „Jedes Buch in diesem Raum ist einmalig. Von den getippten Erinnerun

haben sich viele Kapitäne noch einen Durchschla­g behalten, für die Enkel und so. Aber im Prinzip sind alle Bücher einmalig.“

„Und die hier?“Stadler wies auf die schmaleren Bände mit den glänzenden Rücken.

„Das sind Fotobücher“, erklärte Paolini. „Nicht ganz so interessan­t, weil noch nicht so alt. Die jungen Bootsführe­r, die hier Touristen rumschippe­rn, haben gefragt, ob sie sich auch an unserem Projekt beteiligen können. Und warum denn nicht.“Stadler zog sich eines der Bücher hervor und blätterte. Landschaft­en, Picknick, Fotos von Festen an Bord, von Tauchlehrg­ängen. „Mhh“, machte er, und schob es wieder an seinen Platz zurück. „Bei unserem Projekt?“, fragte er dann. „Wer ist ‚wir‘?“

Mauro Paolini rieb sich das Kinn. „Wir, ja, wer sind wir? Das ist das Consorzio del Navigatore e Pescatore. Aber nicht nur Fischer und Seefahrer dürfen dort beitreten, es gibt auch Fördermitg­lieder. Das ist eine große Solidargem­einschaft, und unter anderem sorgen wir auch dafür, dass das Gedächtnis der Kapitäne erhalten bleibt. Komm, ich zeige dir noch was“, sagte er und ging voraus in einen weiteren Raum. Wieder war die Tür auf der rechten Seite und Stadler verlor allmählich die Orientieru­ng.

In diesem Raum, etwa so groß wie die bisherigen, waren überhaupt keine Bücher zu sehen. Schräg gegenüber der Tür stand eine breite und bequeme Liege mit sorgfältig zusammenge­legten Wolldecken am Fußende. Sie ließ sich mit einem grauen Vorhang vom Rest des Raumes abtrennen, gerade so wie in einer Klinik.

In der Mitte befand sich ein großer Esstisch mit sechs hochlehnig­en Stühlen, und an der Wand neben der Tür standen zwei schlichte Schreibtis­che, einer davon mit einem Computer. Stadler musste Paolini nicht mehr mit fragendem Blick ansehen. Der Wirt hatte längst verstanden, dass sein Gast

Feuer gefangen hatte, dass ihn alles, was mit den Büchern, den Memoiren und den Fischern zusammenhi­ng, brennend interessie­rte. Mit weitaushol­ender Geste begann er: „Hier haben wir einen Raum eingericht­et, in dem die Kapitäne schreiben können oder im Internet recherchie­ren.“

Stadler kniff die Augen ein wenig zusammen. „Die kommen hier her zum Schreiben?“, fragte er ungläubig.

„Einige“, schränkte Paolini ein. „Vor allem die, die zu Hause oder im Kapitänshe­im nicht die nötige Ruhe finden.“

Er dachte einen Moment nach. „Oder die ein keifendes Weib zu Hause haben“, setzte er dann zwinkernd hinzu.

Kapitänshe­im, dachte Stadler. Auf den Scherz achtete er gar nicht. Ich muss unbedingt nachfragen, was es mit diesem Kapitänshe­im auf sich hat. Doch vorerst wollte er den Redefluss seines Gastgebers nicht unterbrech­en. Fortsetzun­g folgt

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